Der Alpenrhein
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  Rheinquelle  
 

Nach Aristoteles besitzt jede Geschichte einen Anfang und ein Ende. Dementsprechend beginnt ein Fluß an seiner Quelle und endet bei seiner Mündung. Wem das trivial erscheint, der möge einen Blick auf die Karte des Rheinbeckens werfen. Die Tafel, die an einem Fels angebracht wurde, um den Ursprung des Rheins zu markieren, unterstellt eine Eindeutigkeit, die man auf der Karte der Rheinzu- und abflüsse vergebens sucht. Dementsprechend ist auch die Zahl, die die Länge angibt trügerisch, da sie von zwei festen, belegbaren Punkten und einer unveränderlichen Strecke dazwischen ausgeht. Warum gerade von hier aus - warum vom Vorder- und nicht vom Hinterrhein? (Warum nicht von der Quelle der Aare, dem wasserreichsten Zufluß bis Basel?). Und gemessen entlang welcher Linie? Was ist der Hauptfluß, welches sind die Nebenflüsse. Und wenn wir die Quelle kennen, wo ist das Ende? Vor Hoek van Holland? In der Nähe von Katwijk? Bei Kampen? "Weshalb es allgemein zu dem Namen Rhein gekommen ist, wenn er wirklich aus dem keltischen Wort für rinnen, dem griechischen rein und dem althochdeutschen hrinan sich ableitet, wird mit jeder Wegstunde durch die Talgründe und Felsengen der Nebenbäche und Zuflüsse geheimnisvoller. Denn Rinnendes gibt es im Graubündischen [...] in so unermeßlicher Zahl, daß es unergründlich bleibt, wie ein Teil des Rinnenden zum Rin wurde. Noch geheimnisvoller ist es, wie die Völker weitab von den Quellen, wo das Rinnende nicht mehr zu überspringen ist, [...] auf den gleichen Namen [...] sich geeinigt haben."1

Rheineinzugsgebiet"Im Allgemeinen gilt das System der Alpenrhein-Zuflüsse als Quelle des Rheins. Der Lauf beginnt im Südosten der Schweiz, entlang der südlichen Flanke des Sankt-Gotthard-Massivs im Kanton Graubünden . Zwei Zuflüsse, der Hinterrhein und der Vorderrhein sammeln das Gletscherwasser und die Schneeschmelze von hunderten winziger Bäche und leiten das Wasser durch schmale Rinnen und Schluchten ins tiefergelegene Tal. Der Hinterrhein (57 km lang) fließt vom Paradiesgletscher in der Nähe des Rheinquellhorn (auf 3202 m) nordwärts, die Via Mala - einer beeindruckenden steilen Schlucht - hinab. Unterhalb Thusis verliert er seinen alpinen Charakter ein wenig, um sich durch das Tal des Domleschg nach Reichenau zu winden. Der Vorderrhein (68 km lang) indessen stürzt sich östlich des Tumasees am Fuß des Piz Badus (2928 m) an der Südflanke des Gotthardmassivs ins Tal des Bündner Oberlands. Beide Quellflüsse vereinen sich beim schweizer Ort Reichenau, nördlich von Chur, zum 100 km langen Alpenrhein. Dieser windet sich in einem breiten Tal durch Gletschergeschiebe und bildet streckenweise die Grenze zwischen der Schweiz, Liechtenstein und Österreich, bevor er in den Bodensee mündet. Biologisch gehören Vorderrhein und Hinterrhein zum 'Forellengebiet', der Alpenrhein zum Forellen-/Äschengebiet."1
Während der Tumasee aus prinzipiellen Gründen als Ursprung des Vorderrheins (und folglich des Alpenrhein und des Rheins) angenommen wird, haben die Alpenbäche keine eine Quelle und damit gibt es auch keinen eindeutig identifizierbaren geographische Ort der Quelle. Im Rhaeto-Romanischen, der Sprache Graubündens, bedeutet 'Rein' lediglich 'fließendes Wasser' oder 'Fluß'. Angesichts der vielen Zuflüsse, aber auch der komplizierten Abflüsse des Deltas muß man vom Rhein als von einer geographischen oder hydraulischen Abstraktions sprechen, von einem Strom, der wie ein Baumstamm von seinen Ästen befreit wurde, um Stammholz sein zu kommen.
Rein da Tuma, Rein da Nalps, Rein da Medel, Rein da Sumvitg - Die verschiedenen Bergbäche werden nach den Tälern unterschieden, durch die sie fließen - derRein de Maighels, der Rein de Medel, der Rein de Sumvitg, usw., die die Hänge hinunterstürzen. Der Alpenrhein ist die Summe all dieser Gewässer. Er ist buchstäblich 'Der Fluß'.

Alpenrhein - Einzugsgebiet Noch mehr als als der Rhein unterhalb des Bodensees ist der Alpenrhein mit seinen Nebenflüssen "von Natur aus unberechenbar. Sein Fluß war unregelmäßig und das Schema seiner Ablagerungen zufällig, was die Ansiedlung im Schweizer Kanton Graubünden und im österreichischen Vorarlberg überaus problematisch erscheinen ließ. Die Industrie bestand überwiegend aus Bergbau und Textilherstellung, während Landwirtschaft und Viehzucht wegen der häufigen Überschwemmungen weniger zahlreich anzutreffen waren. Im 18. Jahrhundert florierte die Holzindustrie, die zum Entstehen zahlreicher Holzfällergemeinden im Überflutungsgebiet beitrug. Zu gleicher Zeit förderte der Holzschlag die Erosion, wodurch die Überschwemmungen an Heftigkeit zunahmen. Die Fluten von 1868 und 1871 veranlassten die drei Anliegerstaaten - Schweiz, Österreich und Liechtenstein - einen für alle Seiten annehmbaren Plan zur Regulierung auszuhandeln. Als treibende Kraft erwies sich Schweiz, die das wirtschaftliche Potential zu entwickeln trachtete, während es sich für Österreich nur um ein Randgebiet fern der Wirtschaftszentren an der Donau handelte. Es brauchte daher zwanzig Jahre - und einige Überschwemmungen mehr (1888, 1890, 1892) - bevor der Schweizerisch-Österreichische Vertrag von 1892 ausgehandelt und ratifiziert wurde."
1895 schufen die Alpenrheinanliegerstaaten ihre eigene Internationale Kommission zur Rheinregulierung, um das Alpenrhein-Projekt in Angriff zu nehmen. Der ursprüngliche Plan sah vor, ein Flußbett von 110 m Breite anzulegen, um die Steigung des Flusses so zu verstärken, daß der Abfluß entsprechend zunehmen und der Sand und Kies in den Bodensee verschoben würde. Zu diesem Zweck wurde das Flußbett zwischen der Illmündung und dem Bodensee in zwei Stufen verkürzt: 1895-1900 entstand ein Durchstich von 5 km Länge bei Fußach, der den Lauf um 7km verkürzte und die Mündung um 8 km nach Westen verlegte; in den Jahren 1909-1922/3 wurde ein zweiter Durchstich bei Diepoldsau angelegt, wodurch sich die Abflußstrecke noch einmal um 3 km verkürzte. Zugleich sorgte man für Deichbauten und Uferbefestigungen von der Illmündung abwärts.
Alpenrhein Mittelgerinne Trotz der Arbeiten verlandete das Flußbett auf gefährliche Höhen. Der Fluß stieg von Jahr zu Jahr, so daß die Deiche erhöht und verstärkt werden mußten, bis der Wasserspiegel bei Hochwasserstand das Niveau der Dächer hinter den Deichen erreichte und das Land dahinter erneut in Gefahr der Überflutung geriet. Entsprechend einem neuen Vertrag von 1954 wurden die Durchstiche überarbeitet: Das Flußbett wurde auf 70 m eingeengt, um den Abfluß zu beschleunigen. Die Maßnahmen erwiesen sich als erfolgreicher, so daß inzwischen jährlich drei Millionen Kubikmeter Geschiebe in den Bodensee transportiert werden.
Dienten diese Maßnahmen des Hochwasserschutzes entlang des Vorder-, Hinter- und Alpenrheins einerseits der Landgewinnung, so lenkten sie andererseits die Aufmerksamkeit auf die Entwicklung der Wasserkraft in den engen Tälern des Vorder- und Hinterrheins, deren Bedeutung Ende des 19. Jahrhunderts stark zunahm. Erste Wasserkraftwerke entstanden 1892 in Ragaz, 1894 in Frauenkirch, 1899 in Glaris und 1904 in Flims. Während diese Kraftwerke zur Versorgung der jeweiligen Region dienten, entstand 1910 eine Anlage in Sils, deren Kapazität über eine Überlandleitung 150 Kilometer nach Westen übertragen wurde. Mit einer Leistung von 130 Millionen kW/h war sie zu jener Zeit die größte ihrer Art. Andere Projekte folgten rasch, so daß Ende des 20. Jahrhunderts das schweizerische Alpenrheinbecken über 61 Kraftwerke und 28 Stauseen zählte, die 15 Prozent der Kraftwerksproduktion beitrugen.

Photo: S.Luber

 
  1Paul Hübner, Der Rhein. Von den Quellen bis zu den Mündungen, München 1982, S.17
2 quoted from Mark Cioc, The Rhine (see below)
3 einem Zeitungsartikel zufolge (Süddeutsche Zeitung, 27. März, 2010) erwies sich der Rhein als rd. 100 Kilometer kürzer als lange angenommen und wäre demzufolge zu korrigieren. Der Biologe Bruno Kremer stellte während seiner Arbeit eine Diskrepanz fest zwischen der Länge, wie sie in der ersten bzw. in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts angegeben wird. Vermutlich aufgrund eines Zahlendrehers wurden aus 1230 1320 km und letzere somit die 'offizielle' Länge, nachdem dieser Wert offenbar ohne weitere Verifikation übernommen und immer weiter abgeschrieben wurde.
 
 
  Hochrhein
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Mark Cioc, The Rhine, An Eco-Biography, 1815-2000, Seattle/London [Washington University Press] 2002  
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