Victor Hugo
Der Rhein. Briefe an einen Freund

Brief XIII

 

Andernach.

Ich schreibe Ihnen noch immer aus Andernach am Rhein, wo ich vor drei Tagen angekommen bin. Andernach ist eine alte römische Ortschaft, an deren Stelle eine gotische Gemeinde trat, die noch immer besteht. Die Landschaft vor meinem Fenster ist hinreißend. Vor mir befindet sich am Fuß eines hohen Hügels, der mich kaum einen schmalen Streifen des Himmels sehen läßt, ein schöner Turm aus dem 13. Jahrhundert, von dessen First ein anderer, kleinerer, achtgiebeliger Turm aufragt, wie ich es so hübsch noch nirgendwo gesehen habe, der von einem konischen Dach gekrönt ist; zu meiner Rechten der Rhein und durch die Bäume hindurch das fröhliche weiße Leutesdorf; zu meiner Linken die vier byzantinischen Glockentürme einer großartigen Kirche aus dem 11. Jahrhundert, zwei über dem Portal, zwei über der Apsis. Die zwei kräftigen Glockentürme des Portals verfügen über ein zusammengewürfeltes Profil, ebenso seltsam wie großartig; es handelt sich um rechteckige Türme, überragt von vier dreieckigen Spitzgiebeln, in deren Zwischenräume vier schieferne Rauten eingefügt sind, die oben zusammenlaufen und die Turmspitze bilden. Unter meinem Fenster schnattern in vollkommener Eintracht Hühner, Kinder und Enten. Weiter hinten, unten, klettern die Bauern in den Weinbergen umher. Überdies scheint es, als habe dem Mann von Geschmack, der das Zimmer gestaltet hat, in welchem ich wohne, dieses Bild nicht genügt: neben meinem Fenster hat er – gewiß als Gegenüber – ein weiteres genagelt. Es zeigt ein Bild, auf dem zwei große, auf der Erde stehende Leuchter dargestellt sind, die die Inschrift Ansicht von Paris tragen. Nachdem ich mir lange den Kopf zerbrochen habe, habe ich entdeckt, daß es eine Ansicht der Barriere von Trône ist. Das Ding hat eine gewisse Ähnlichkeit.
Am Tag meiner Ankunft habe ich die Kirche besichtigt, die innen schön, aber scheußlich übertüncht ist. Der Kaiser Valentinian und ein Kind Friedrich Barbarossas liegen hier begraben, wovon es aber keine Zeugnisse gibt. Ein schöner Christus im Grab als Hochrelief, Figuren aus dem 15. Jahrhundert von großer Natürlichkeit; ein Ritter aus dem sechzehnten, als Halbrelief gegen die Wand gelehnt; in einem Speicher eine Menge kolorierte Figurinen aus grauem Alabaster, Reste irgendeines Mausoleums aus der Renaissance, aber wundervoll – das ist alles, was mich ein buckliger, lächelnder Glöckner gegen ein kleines Stück vergoldetes Kupfer hat sehen lassen, das hier den Wert von dreißig Sous hat.
Nun muß ich Ihnen eine wirkliche Geschichte erzählen, eine Begegnung eher als ein Abenteuer, die in meinem Geist den Eindruck eines schleierhaften, düsteren Traums hinterlassen hat.
Beim Verlassen der Kirche, deren Eingang zum Land hin weist, habe ich einen Rundgang durch die Stadt gemacht. Die Sonne ging gerade hinter dem hohen, bestellten und bewaldeten Hügel unter, der einst, in unvordenklicher Zeit, ein Lavaklumpen war und heute ein Steinbruch für Basalt-Mühlsteine ist, der Artonacum vor zweitausend Jahren überragte und heute Andernach; der Zeuge war, wie nacheinander die Zitadelle des römischen Präfekten; der Palast der austrasischen Könige, aus dessen Fenster die Fürsten eines ahnungslosen Zeitalters Karpfen aus dem Rhein fischten; das Kaisergrab Valentinians; das Kloster der Edlen Töchter von St. Thomas ausgelöscht wurden und der jetzt sieht, wie Stein für Stein die alten Mauern der Lehensstadt der Kurfürsten von Trier verfallen.
Ich bin dem Graben gefolgt, der sich an den Mauern entlangzieht, an welcher sich in trauter Gemeinschaft die Bruchbuden der Bauern schmiegen und die zu nichts anderem gut sind, als die Kohl- und Salatbeete gegen den Nordwind zu verteidigen.
Die noble, dermaßen zerstörte Stadt besitzt noch vierzehn runde oder rechteckige Türme, die jedoch in armselige Unterkünfte der Gärtner umgewandelt wurden; die halbnackten Knirpse lassen sich auf den herabgestürzten Steinen nieder, um zu spielen, und die Mädchen liegen in den Fenstern und tratschen in den Schießscharten über ihre Liebschaften. Das großartige Kastell, das Andernach nach Süden verteidigte, ist nichts als eine große Ruine; mit ihren ausgebrochenen Fensternischen liegt sie schwermütig den Strahlen der Sonne wie des Mondes preisgegeben und der Waffenhof dieses Kriegsquartiers ist mit einem hübschen grünen Rasen überzogen, auf dem die Frauen der Stadt im Sommer ihre Stoffe bleichen, die sie über den Winter gewoben haben.
Nachdem ich das große gotische Tor von Andernach hinter mich gelassen habe, das von über die Zeit geschwärzten Einschußlöchern übersät ist, fand ich mich am Ufer des Rheins wieder. Der feine, von kleinen Grassoden durchsetzte Sand war so einladend, daß ich langsam das Ufer hinaufstieg in Richtung auf die entfernten Hügel von Sayn. Der Abend war ungemein mild; die Natur besänftigte sich, um sich zur Nacht zu betten. Die Bachstelzen kamen herbei, um aus dem Fluß zu trinken und flogen fort in die Weidengebüsche; auf den Tabakfeldern sah ich auf schmalen Pfaden Karren mit vorgespannten Ochsen, die mit jenem Basalttuff beladen waren, aus dem Holland seine Deiche baut. Nicht weit von mir lag am Ufer ein Fährboot nach Leutesdorf, dessen Bug das strenge und sanfte Wort Pius trug. Auf der anderen Rheinseite zogen am Fuß eines langen, beschatteten Hügels dreizehn Pferde langsam ein anderes Schiff, unterstützt von zwei großen dreieckigen Segeln, die sich im Abendwind blähten. Der gemessene Trab des Gespanns, das Geräusch der Schellen und das Knallen der Peitschen schallte bis zu mir herüber. In der Ferne verlor sich eine weiße Stadt im Dunst; und ganz hinten, im Osten, am äußersten Rand des Horizonts, erschien der Vollmond rot und rund wie ein Zyklopenauge zwischen zwischen den Lidrändern zweier Wolken.
Wie lange ich so, verloren in die Traumwelt der Natur, gegangen bin? Ich weiß es nicht. Aber es war schon finstre Nacht, das Land war vollkommen verlassen, der leuchtende Mond stand fast im Zenit, als ich gewissermassen erwachte, am Fuß einer Anhöhe, auf der ein kleiner dunkler Block stand, um den herum sich schwarze Linien abzeichneten, von denen die einen wie Ständer, die anderen wie Masten mit ihren quer abstehenden Rahen erschienen. Ich stieg hinauf, durch Garben frisch geschnittener Saubohnen hindurch. Der Block, der auf dem Rund einer dicken Mauer ruhte, war ein Grab, das in einem Gerüst stand.
Wessen Grab war dies? Wozu dieses Gerüst?
In den Stein der Mauer eingelassen war eine schmale, niedrige Tür, die durch dicke Bretter versperrt war. Ich klopfte mit dem Ende meines Stocks dagegen; der schlafende Bewohner antwortete mir nicht.
Also stieg ich über eine sanft ansteigende, mit einem Rasenteppich überwachsene und von blauen Blumen übersäte Rampe, die mir der Mond wies, das steinerne Rund hinauf und betrachtete das Grab.
Ein großer, gestutzter Obelisk, der auf auf einem gewaltigen Würfel stand, welcher einen romanischen Sarkophag darstellte; Beides, Obelisk und Würfel aus bläulichem Granit; rings um das Denkmal und bis zu seinem First ein pockennarbiges Zimmerwerk, über das eine lange Stufenleiter führt; die vier Seiten des Würfels kaputt und offen, als ob man davon vier Basreliefs abgerissen hätte; hier und dort, zu meinen Füßen, auf der kreisrunden Plattform zerbrochene blaue Granitplatten, Bruchstücke von Karniesen, Reste von Gesims – das war es, was mir der Mond zu sehen gab.
Ich ging um das Grab herum, auf der Suche nach dem Namen des Verstorbenen. Auf den drei ersten Seiten war nichts zu entdecken; auf der vierten erblickte ich diese Widmung in blinkenden kupfernen Buchstaben: L'armée de Sambre-el-Meuse à son général en chef – und unter den zwei Linien enthüllte der Vollmond mir den Namen, der mehr angedeutet als geschrieben stand:
HOCHE.
Die Buchstaben waren herausgerissen, hatten aber auf dem Granit einen schemenschaften Eindruck hinterlassen.
Diesen Name, an diesem Ort, zu dieser Stunde, in dieser Deutlichkeit wahrzunehmen, rief in mir einen tiefen und unaussprechlichen Eindruck hervor. Ich habe Hoche immer geliebt. Wie Marceau war er einer der großen jungen Männer, die schnell aufgestiegen waren und durch welche die Vorsehung – die wollte, daß die Revolution siege und daß Frankreich herrsche – auf Bonaparte vorbereitete. Halbgelungene Versuche, unvollkommene Beweise dafür, daß das Schicksal etwas ebenso rasch zerbrochen hat, sobald es einmal die vollendete und festumrissene Profil des richtigen Mannes aus dem Schatten hervorgezogen hat.
Hier also ist Hoche gestorben, dachte ich bei mir. – Und ich erinnerte mich des heldenhaften Datums 18 April 1797 .
Ich achtete nicht darauf, wo ich war. Ich ließ meinen Blick kreisen. Nach Norden erstreckte sich eine weite Ebene; im Süden lag, einen Gewehrschuß entfernt, der Rhein; und zu meinen Füßen der Anhöhe, die eine Art Sockel für das Grab bildete, lag ein Dorf, an dessen Eingang ein rechteckiger Turm aufragte.
In diesem Augenblick überquerte ein Mann einige Schritte vom Denkmal entfernt das Feld. Ich fragte ihn aufs Geratewohl in Französisch nach dem Namen jenes Dorfes. Der Mann – vielleicht ein alter Soldat, denn der Krieg hat die Völker dieser Welt ebenso wie die Zivilisation unsere Sprache gelehrt – der Mann rief: Weiss Thurm, bevor er hinter einer Hecke verschwand.
Diese beiden Wörter Weiss Thurm die tour blanche bedeuten, erinnerten mich an das Turris Alba der Römer. Hoche ist an einem illustren Ort gestorben. Es ist derselbe Ort, an dem Caesar zweitausend Jahre zuvor zum ersten Mal den Rhein überschritt.
Was tat das Gerüst an dem Denkmal? War man dabei, es zu restaurieren? Wollte man es abreißen? Ich weiß es nicht.
Ich stieg den Sockel hinauf und schaute, während ich mich am Zimmerwerk festhielt, durch eine der vier Öffnungen, die man in den Würfel geschlagen hatte, ins Grab hinein. Es bestand aus einer kleinen rechteckigen Kammer, die kahl, düster und kühl war. Ein Mondstrahl, der durch eine Spalte eindrang, zeichnete ins Dunkel eine weiße, gerade, aufrechte Form gegen die Wand. Gebückt und auf Knieen betrat ich die Grabkammer durch die enge Scharte, wo ich mitten auf dem gepflasterten Boden ein rundes, finster gähnendes Loch ausmachte. Dort hindurch wurde gewiß einst der Sarg ins ins Innere der Gruft hinabgelassen. Ein Seil hing hinab und verlor sich in der Dunkelheit. Ich trat heran. Ich wagte einen Blick in das Loch hinein, in diesen Schatten, in diese Gruft; ich spähte nach dem Sarg; ich konnte nichts sehen.
Kaum, daß ich die schemenhaften Umrisse einer Art Begräbniskammer erkannte, die man ins Gewölbe hineingeschnitten hatte und die sich im Halbdunkel abzeichnete.
Ich habe lange dort verweilt, wobei das Auge und der Geist sich vergebens in dieses doppelte Mysterium des Todes und der Nacht stürzte. Wie aus einem offenen Mund entstieg dem Loch der Gruft ein eisiger Hauch.
Ich kann nicht beschreiben, wie mir war. Dieses Grab, auf das ich so unvermittelt stieß, dieser unerwartete große Name, die schaurige Kammer, diese bewohnte oder leere Gruft, dieses Gerüst, das ich durch die Breschen im Mauerwerk sah, diese Einsamkeit und dieser Mond, der das Grabmal umfing, all diese Gedanken drängten sich mir gleichzeitig auf und erfüllten sie mit Schatten. Mein Herz wurde von tiefem Mitleid erfaßt. Hier also enden die berühmten Toten, verbannt oder vergessen in der Fremde. Diese von einer ganzen Armee errichtete Trophäe der Trauer steht nun den Vorübergehenden ausgeliefert. Der französische General ruht fern seines Heimatlandes auf einem Bohnenfeld und die preußischen Maurer verfahren nach Belieben mit seinem Grabmal.
Mir schien als hörte ich dieser Steinmasse eine Stimme entsteigen, die sagte: Frankreich muß den Rhein wieder nehmen.
Eine halbe Stunde später war ich wieder auf dem Weg nach Andernach, von dem ich mich nur drei Kilometer entfernt hatte.

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Ich begreife die «Touristen» nicht: Es ist ein wunderbarer Ort. Ich durchwandere die Landschaft, die großartig ist. Oben von den Hügeln umfaßt der Blick einen Riesenkreis vom Siebengebirge zum Gipfel des Ehrenbreitstein. Hier gibt es keinen Stein eines Gebäudes der nicht an irgendetwas erinnert, kein Detail der Landschaft, das nicht anmutig wäre. Die Bewohner erfreuen den Fremden durch ihre einnehmenden Züge. Das Gasthaus (Zum Römischen Kaiser) zählt zu den besten Deutschlands. Andernach ist eine liebenswürdige Stadt, jawohl! Andernach ist eine verlassene Stadt. Niemand kommt hierher. – Man geht dorthin, wo Rummel ist, nach Koblenz, Baden, Mannheim; man kommt nicht dorthin, wo man die Geschichte, die Natur oder die Poesie findet, nach Andernach.
Ich bin ein zweites Mal zur Kirche zurückgekehrt. Das byzantinische Ornament der Glockentürme ist von seltenem Reichtum und von einem einem Geschmack, der zugleich primitiv und exquisit ist.
Das Südportal besitzt merkwürdige Kapitelle und eine stark hervortretende Rippenarchivolte. Das stumpfwinklige Tympanon zeigt eine byzantinische Malerei der Kreuzigung, die noch deutlich zu erkennen ist. Über der Fassade neben der Ogiven-Tür stellt ein gemaltes Basrelief aus der Renaissance den knieenden Jesus mit ausgebreiteten Armen in der Haltung des Entsetzens dar. Um ihn herum wirbeln und vermischen sich wie in einem Albtraum alle furchtbaren Dinge, aus denen die Passion besteht, der Spottmantel, das Rohrzepter, die Dornenkrone, die Ruten, die Zange, der Hammer, die Nägel, die Leiter, die Lanze, der Gallschwamm, das boshafte Gesicht des üblen Schächers, die leichenblasse Maske de Judas mit der Börse um den Hals, und schließlich vor den Augen des Göttlichen Gebieters das Kreuz und zwischen den Armen des Kreuzes, als die höchste Qual, als der stechendste aller Schmerzen, einen kleine Säule, auf welcher sich der krähende Hahn erhebt, will sagen, der Undank und die Preisgabe durch den Freund. Dieses letztere Detail ist von bewundernswerter Schönheit. Darin liegt die ganze große Lehre, wonach das moralische Leiden schwerer wiegt als das physische. Der riesige Schatten der zwei großen Türme breitet sich über diese düstere Elegie aus.
Um das Basrelief herum hat der Bildhauer eine Legende eingemeißelt, die ich abgeschrieben habe (sic):


0 vos omnes qui transilis per viam, altendite et videte si est dolor similis sicut dotor meus. 1538.

Vor dieser ernsten Fassade, einige Schritte von dieser zweifachen Klage des Hiob und des Jesus entfernt, spielten hübsche Kinder, fröhlich und rosig, indem sie auf einem grünen Rasen herumtollten und mit lautem Kreischen ein armes zahmes, scheues Kaninchen grasen ließen. Niemand sonst kam diesen Weg entlang.
Es gibt noch eine zweite schöne Kirche in Andernach, eine gotische. Das Schiff aus dem vierzehnten Jahrhundert dient als Marstall der Kaserne und wird von den preußischen Kavalleristen mit dem Säbel in der Faust bewacht. Durchs offene Tor sieht man in einer langen Reihe die Kruppen der Pferde, die sich im Dunkel der Kapellen verlieren. Über dem Portal liest man: Sancta Maria, ora pro nobis. Gegenwärtig sind es die Pferde, die das sagen.
Ich wäre gerne auf den merkwürdigen Turm gestiegen, den ich während meines Rundgangs gesehen hatte und der nach allem Dafürhalten eine alte Vedette der Stadt ist, aber die Treppe ist zerbrochen und die Gewölbe sind eingefallen. So mußte ich darauf verzichten. Übrigens verfügt dieses Mauerwerk über so viele Blumen, so bezaubernde Blumen, so geschmackvolle Blumen, die mit so viel Hingabe an den Fenstern gepflegt werden, daß man denken könnte, er wäre bewohnt. Er ist tatsächlich bewohnt, und zwar von jener niedlichsten und scheuesten Bewohnerin, von der süßen unsichtbaren Fee, die in allen Ruinen wohnt, welche sie für sich allein beansprucht, die alle Geschosse, alle Decken, alle Treppen hinter sich abbricht, damit der Mensch die Vogelnester nicht störe und die vor alle Fenster Blumentöpfe stellt, die sie als Fee aus jedem alten Stein, der vom Regen herausgewaschen oder von der Zeit herausgebrochen wurde, zu machen versteht.

Victor Hugo: Der Rhein, Köln 2012