Sankt
Goar, August
Man kann in Sankt Goar sehr gut eine Woche zubringen. Man sollte darauf
achten, daß man im sehr komfortablen Gasthaus Zur Lilie ein Zimmer
mit Blick auf den Rhein nimmt. Man wohnt dann zwischen Burg Katz und
Burg Maus. Zur Linken hat man die Maus, die am Horizont halbverhüllt
im Nebel des Rheins steht; zur Rechten und vor sich die Katz, der starke
von Wachtürmen umgebene Bergfried, der oben auf dem Hügel
die Spitze eines Dreiecks einnimmt, dessen beide Ecken von den alten
Türmen – der eine viereckig, der andere Rund – des
malerischen Dorfs Sankt Goarshausen besetzt werden, das die Basis am
Rheinufer bildet. – Die beiden feindlichen Burgen belauern sich
und scheinen sich über das Land hinweg blitzende Blicke zuzuwerfen,
denn obwohl eine Burg eine Ruine ist, schaut sein Fenster noch, jedoch
mit dem entstellten Ausdruck eines verwundeten Auges.
Gegenüber, auf dem rechten Ufer und bereit, die beiden Feinde zur
Ordnung zu rufen, wacht das kolossale Gespenst des Burg-Palasts der
hessischen Landgrafen, Rheinfels.
In Sankt Goar ist der Rhein kein Fluß mehr, sondern ein See, ein
wahrhaftiger Jurasee, mit seiner düsteren Umrahmung, seine tiefen
Spiegelungen und seinem gewaltigen Getöse, von allen Seiten unschlossen.
Bleibt man zu Hause, dann genießt man den ganzen Tag über
das Schauspiel des Rheins, die Flöße, die langen Segelschiffe,
die kleinen gepfeilten Nachen und die acht oder zehn Dampffähren,
die kommen und gehen, stromauf und stromab fahren und ständig wie
ein schwimmender Hund plätschernd, qualmend und mit wehenden Fahnen
vorbeifahren. In der Ferne erkennt man auf dem gegenüberliegenden
Ufer unter den hübschen Nußbäumen, die eine Wiese überschatten,
wie die Soldaten des Herrn von Nassau in grünem Rock und weißer
Hose exerzieren, und man hört den Trommelschlag des Tambours eines
kleinen souveränen Fürsten. Ganz dicht unter dem Fenster beobachtet
man die Frauen von Sankt Goar, wie sie in ihrer himmelblauen Haube vorübergehen,
die aussieht wie eine Tiara, die man mit einem Faustschlag angepaßt
hat, und man hört eine Horde kleiner Kinder lachen und schwatzen,
die gerade am Rhein gespielt haben. Weshalb nicht? Die von Tréport
und Étretat spielen auch am Meer. Die Kinder am Rhein sind übrigens
reizend. Keines hat beispielsweise den boshaften und ernsten Ausdruck
der englischen Knirpse. Die Züge der deutschen sind wohlwollend,
wie die der alten Pfaffen.
Wer ausgehen will, kann für sechs Sous – der Preis für
einen Pariser Bus – den Rhein überqueren und zur «Katz»
aufsteigen. In diesem Herrensitz der Barone von Katzenelnbogen spielte
sich 1471 das schaurige Abenteuer des Kaplans Johann von Barnich ab.
Heute ist die «Katz» eine schöne Ruine, die der Herzog
von Nassau einem preußischen Major für jährlich vier
oder fünf Gulden zum Nießbrauch verpachtet hat. Drei oder
vier Besucher zahlen die Pacht. Ich habe das Buch durchgeblättert,
in das sich die Fremden einschreiben und habe auf dreißig Seiten
– etwa ein Jahr – nicht einen einzigen französischen
Namen entdecken können. Überwiegend deutsche Namen, einige
englische, zwei oder drei Italiener, das ist das ganze Verzeichnis.
Im übrigen ist das Innere der «Katz» vollständig
zerstört. Der Untersaal des Turms, wo der Kaplan das Gift für
die Gräfin zubereitete, dient heute als Keller. Ein paar mickrige
Weinranken winden sich um ihre Rebpfähle, wo sich einst der Ahnensaal
befand. In einem kleinen Gemach, dem einzigen mit Tür und Fenster,
hat man einen Stich an die Mauer geheftet, der Bohdan Chmelnykyj darstellen
soll, unter dem steht: Belli servilis autor (sic) rebelliumque Cosaccorum
et plebis Ukraynen. Der großartige zaporawische Anführer,
ausstaffiert in einer Tracht, halb moskowitisch, halb türkisch,
scheint – möglicherweise durch einen Fehler des Stechers
– zwei oder drei Bildnissen von zwei oder drei regierenden Fürsten,
die neben ihm hängen, zuzuzwinkern.
Von der Höhe der «Katz» fällt das Auge hinunter
auf den berühmten Mælstrom der «Bank». Zwischen
der Bank und dem rechteckigen Turm von Sankt Goarshausen besteht nur
eine enge Durchfahrt. Auf der einen Seite der Strudel – auf der
anderen der Fels. Man trifft am Rhein sogar auf Scilla und Charybdis…
Während der Überquerung dieser gefürchteten Stelle befestigen
die Flöße an einem sehr langen Seil einen Baumstamm, den
sie «Hund» nennen; in dem Augenblick, wo sie zwischen der
Bank und dem Turm hindurch sind, werfen sie den Stamm zur Bank hinüber.
Die Bank beeilt sich den Baumstamm zu fassen und macht ihn dort fest.
Auf diese Weise hält das Floß Abstand zum Turm. Sobald die
Gefahr vorüber ist, durchtrennt man das Seil und der Schlund frißt
den «Hund». Ein Bissen für diesen Zerberus.
Während man auf der Plattform der Katz steht, fragt man seinen
Führer: Wo ist denn die Bank? Er weit zu Ihren Füßen
auf einen kleinen Knick im Rhein. Dieser Knick, das ist der Strudel.
Man darf die Abgründe nicht nach ihrem Aussehen beurteilen.
Ein wenig weiter als die «Bank» steigt auf und fällt
in einer der wildesten Biegungen fast senkrecht der sagenhafte Felsen
der Loreley in den Rhein, der mit seinen tausend Schichten aus Granit
aussieht, wie eine eingestürzte Treppe. Hier gibt es ein berühmtes
Echo, das, so heißt es, sieben Mal wiederholt, was man sagt oder
singt.
Müßte ich nicht befürchten als ein Mann dazustehen,
der den Ruf der Echos in Zweifel zu ziehen, würde ich bekennen,
daß mir das Echo nie mehr als fünfmal geantwortet hat. Es
ist wahrscheinlich, daß die Oreade der Loreley, der einst so viele
sagenhafte Prinzen und Grafen huldigten, heiser zu werden und sich zu
langweilen beginnt. Diese arme Nymphe hat nurmehr einen einzigen Anbeter,
der sich ihr gegenüber am anderen Rheinufer zwei kleine Nischen
in den Fels gehauen hat und seinen Tag damit verbringt, ihr das Jagdhorn
zu spielen und Schüsse aus dem Gewehr ertönen zu lassen. Dieser
Mann, der dem Echo Arbeit besorgt und dort lebt, ist ein tapferer alter
französischer Husar.
Auf einen Spaziergänger, der es nicht erwartet, macht das Echo
der Loreley durchaus Eindruck. Ein Nachen, der an dieser Stelle mit
seinen kleinen Riemen den Rhein überquert, verursacht einen gewaltigen
Lärm. Schließt man die Augen, glaubt man sich auf einer maltesischen
Galeere mit fünfzig großen Riemen, deren jedes von vier angeketteten
Galeerensklaven gerudert wird.
Beim Abstieg von der «Katz» sollte man, bevor man Sankt
Goarshausen verläßt, eine kleine Gasse aufsuchen, die parallel
zum Rhein verläuft, in der ein reizendes deutsches, von seinen
Bewohnern selbstverständlich stark vernachlässigtes Renaissancehaus
steht. Dann wendet man sich nach rechts, überquert die Brücke
über einen Bach und betritt im Lärm der Wassermühlen
ein «Schweizertal», ein prachtvolle, nahezu alpine Schlucht,
die von einem Abhang des Petersbergs und einer der Hinterwände
der Loreley gebildet wird.
Das Schweizertal ist ein schöner Spaziergang. Man geht, man kommt,
man besucht die Dörfer in der Höhe, man begibt sich in enge
Felsspalten, die so dunkel und einsam sind, daß ich in einer von
einem Eber frisch aufgewühlte Erde und aufgebrochenes Gras entdeckt
habe. Man kann auch dem Grund der Schlucht folgen, zwischen den Felsen
hindurch, die Zyklopenmauern gleichen und unter den Weiden und Erlen.
Dort kann man für sich, vollkommen umschlossen von einem Abhang
aus Blättern und Blumen den ganzen Tag umherschweifen, träumen
und dem Geplauder des Bachs und des Fußsteigs lauschen, wie ein
Freund, der als Dritter einem intimen Beisammensein beiwohnt. Wenn man
sich dann den ausgefahrenen Straßen, den Höfen und Mühlen
nähert, erscheint Einem alles, was Einem begegnet, zuvor arrangiert
und zusammengestellt, um die Ecke einer Landschaft in einem Gemälde
von Poussin einzurichten. Da ist ein halbbekleideter Hirte allein mit
seiner Herde in einem Feld aus fahlen Farben, der auf einer Art altertümlicher
Schalmei wunderliche Melodien bläst. Da ist ein Karren, der von
Ochsen gezogen wird, wie ich sie auf den Vignetten von Virgile-Herhan
gesehen hat, in die ich mich in meiner Kindheit vertiefte. Zwischen
dem Joch und der Stirn der Ochsen befindet sich ein kleines Lederkissen,
bestickt mit roten Blumen und prangenden Arabesken. Da sind die Mädchen,
barfuß und frisiert wie spätrömische Statuen. Ein reizendes
Mädchen erblickte ich: Sie saß bei einem Herd, um Früchte
zu trocknen, die leicht dampften. Sie erhob ihre großen blauen,
traurigen Augen gen Himmel, die wie zwei Mandeln aussahen, die aus ihrem
sonnengebräunten Gesicht ausgeschnitten waren. Ihr Hals war mit
Glasperlen und Halsbändern behängt, die geschickt den Ansatz
eines Kropfs verdeckten. Diese Mißbildung an dieser Schönheit
– man hätte meinen können, es handele sich um eine vor
ihrem Altar kauernde indische Götze.
Unvermittelt überquert man eine Weide, die Hänge der Schlucht
weichen zurück und man gewahrt eine herrliche Ruine, die steil
vom Gipfel eines bewaldeten Hügels aufragt. Dieses Schloß
ist der Reichenberg. Hier wohnte zur Zeit des Faustrechts im Mittelalter
einer der berüchtigtsten Raubritter, die sich selbst «Landschaden»
nannten. Die benachbarte Stadt mochte klagen; der Kaiser mochte den
Wegelagerer vor den Reichstag zitieren; der Mann aus Eisen schloß
sich in sein Haus aus Granit ein, setzte unverdrossen seine Orgie der
Allmacht und der Dieberei fort und lebte, durch die Kirche exkommunziert,
vom Reichstag verurteilt, vom Kaiser verfolgt, bis ihm der weiße
Bart auf den Bauch reichte. Ich habe den Reichenberg betreten. Es gibt
in der homerischen Räuberhöhle nichts als wilde Skabiosen,
Schatten zerbrochener Fenster, die durch die Trümmer wandern, zwei
oder drei Kühe, die das Gras der Ruine abweiden, über der
großen Tür Reste von Wappen, die mit dem Hammer zerschlagen
wurden und da und dort unter den Füßen des Reisenden von
Reptilien aufgelockertes Gestein.
Ich habe hinter dem Hügel des Reichenberg einige Bruchbuden eines
Dorfs aufgesucht, die inzwischen kaum zu erkennen von einem aufgelassenen
Dorf stammen, daß sich Badersdorf nannte. Mit diesem Dorf hatte
es Folgendes auf sich:
Der Teufel, der nach Friedrich Barbarossa wegen seiner zahlreichen Kreuzzüge
trachtete, hatte eines Tages den Einfall, ihm den Bart abzuschneiden.
Das war ein wahrhaftiges Schelmenstück, sehr passend zum Teufel
gegenüber dem Kaiser. Er richtete es daher mit Hilfe einer örtlichen
Dalila ein, daß der Kaiser durch irgendeinen unwahrscheinlichen
Verrat auf seinem Weg durch Bacharach in Schlaf versetzt und daraufhin
von einem der Barbiere des Ortes rasiert würde. Barbarossa hatte
sich jedoch, als er erst Herzog von Schwaben war, während seiner
Zeit der Liebschaft mit der schönen Gela, einer alten Fee der Wisper
verpflichtet, die sich entschloß, den Plan des Teufels zu durchkreuzen.
Die kleine Fee, die nicht größer als ein Grashüpfer
war, fand unter ihren Freunden einen überaus dummen Riesen, von
dem sie sich seinen Sack auslieh. Der Riese willigte ein und bot sogar
großzügig an, sie zu begleiten – ein Angebot, das die
Fee nicht ausschlug. Die kleine Fee machte sich vermutlich etwas größer,
bevor sie in Nacht vor der Durchreise des Kaisers nach Bacharach ging,
nahm die Barbiere des Orts einen nach dem anderen und steckte sie in
den Sack des Riesen. Dann forderte sie den Riesen auf, den Sack auf
seine Schultern zu nehmen und ihn weit fortzuschaffen, egal wohin. Der
Riese, der, weil es Nacht war und er so dumm, nichts von dem mitbekommen
hatte, was die Alte getan hatte, gehorchte und ging mit dem Sack über
der Schulter mit großen Schritten durchs schlafende Land. Währenddessen
begannen die Barbiere, die gegeneinander purzelten, zu erwachen und
in dem Sack durcheinanderzuwimmeln. Der Riese erschrak und verdoppelte
seinen Schritt. Als er über den Reichenberg kam und wegen des großen
Turms sein Bein ein wenig höher heben mußte, nahm einer der
Barbiere das Rasiermesser, welches bei sich trug, aus der Tasche und
schnitt ein großes Loch in den Sack, durch das alle Barbiere ein
wenig zerdrückt und zerschlagen und unter Geschrei hinaus ins Gestrüpp
fielen. Der Riese, der glaubte, ein Nest voll Teufel auf seinem Rücken
zu haben, rettete sich so schnell ihn seine Beine trugen. Am folgenden
Morgen, als der Kaiser durch Bacharach kam, gab es im ganzen Land keinen
Barbier, und als Beelzebub seinerseits eintraf, rief ein spottender
Rabe, der sich auf dem Stadttor niedergelassen hatte, dem Herrn Teufel
zu: Mein Freund, du trägst mitten in deinem Gesicht ein sehr großes
Ding, das du selbst im besten Spiegel nicht sehen kannst, das heißt,
ein Lange Nase. – Seit dieser Zeit gibt es in Bacharach keine
Barbiere. Es soll selbst heute unmöglich sein, einen Badersladen
zu finden. Was die Barbiere betrifft, die von der Fee fortgezaubert
wurden, so ließen sie sich an demselben Ort nieder, wo sie herausgefallen
waren und errichteten dort ein Dorf, das man Badersdorf nannte. Auf
diese Weise bewahrte Friedrich I., genannt Rotbart, seinen Bart und
seinen Nachnamen.
Außer der Maus, der Katz, der Loreley, dem Schweizertal und dem
Reichenberg gibt es in der Nähe von Sankt Goar noch den Rheinfels,
von dem ich Ihnen gleich berichten werde.
Ein im Innern ganz ausgehöhlter Berg mit einem Kamm von Ruinen
auf seinem Haupt, zwei oder drei Stockwerke mit unterirdischen Gemächern
und Gängen, als wären sie von Riesenmaulwürfen gegraben
worden; gewaltige Trümmer; riesige Säle mit Ogiven, die in
der Öffnung fünfzig Fuß messen, sieben Verliese, die
mit moderigem Wasser gefüllt sind, das einen Steinwurf flach und
tot zurückwirft; der Lärm der Wassermühlen im kleinen
Tal hinter dem Schloß und durch die Mauerrisse der Fassade hindurch
der Rhein mit ein paar Dampfern, die aus dieser Höhe betrachtet
einem großen grünen Fisch mit gelben Augen gleichen, der
auf der Wasseroberfläche dahinzieht und dazu abgerichtet ist, Menschen
und Wagen auf seinem Rücken zu tragen; ein in Geröll verwandeltes
Ritterschloß der Landgrafen von Hessen; Schießscharten für
Kanonen und Katapulte, die den Kerkern der wilden Tiere der antiken
römischen Arenen gleichen, in denen das Gras wächst; an einigen
Stellen halb in die alte, aufgebrochene Mauer eingelassen eine eingefallene,
verschüttete Wendeltreppe, deren Spirale in die Luft ragt, wie
eine gigantische antediluvianische Muschel; unbehauener Schiefer und
Basalt, die den Archivolten das Profil von Sägen und geöffneten
Gebissen verleihen; dickbauchtige Ringmauern, die in einem Stück
umgefallen sind, oder besser ausgedrückt, sich auf auf die Seite
gelegt haben, als wären sie zu müde, um aufrecht zu sehen
– das ist der Rheinfels. All das sieht man für zwei Sous.
Es scheint als bebe die Erde unter dieser Ruine. Es ist kein Erdbeben,
sondern Napoleon, der hier durchzieht. Im Jahr 1807 hat der Kaiser Rheinfels
gesprengt.
Seltsame Sache – Alles ist eingefallen, außer den vier Wänden
der Kapelle. Man betritt diesen Ort des Friedens, der als einziger inmitten
dieser gigantischen geschleiften Zitadelle erhalten ist, mit einem gewissen
Gefühl der Melancholie. In den Fensterdurchbrüchen liest man
folgende tiefgründige Inschriften: — Sanctus Franciscus de
Paula vixit 1500. Sanctus Franciscus vixit 1526. — Sanctus Dominicus
vixit... (ausgelöscht). Sanctus Albertus vixit 1292. — Sanctus
Norbertus, 1150. Sanctus Bernardus, 1139. — Sanctus Bruno, 1115.
Sanctus Benedictus, 1140. — Es gibt noch einen ausgelöschten
Namen, bevor man, nachdem man sich auf diese Weise von Aureole zu Aureole
die christlichen Jahrhunderte hinaufgearbeitet hat, zu drei majestätischen
Zeilen gelangt:
Sanctus Basilius magnus, episc. Cœsareœ Cappadoci, magister
monachorum orientalium, vixit anno 372 – neben Basilius dem Großen,
unter derselben Tür der Kapelle, stehen diese zwei Namen: Sanctus
Antonius magnus. Sanctus Paulus eremita. Soweit dasjenige, was die Bombe
und die Mine verschont hat.
Dies prächtige Schloß, das unter Napoleon zerstört wurde,
hat vor Ludwig XIV. gezittert. Die alte Gazette de France, die im Adreßbüro
im Halbgeschoß des Louvre gedruckt wurde, verkündet für
den 23. Januar 1693, daß der „Landgraf von Hessen-Kassel
die Stadt Sankt Goar und den Rheinfels eingenommen hat, die ihm vom
Landgraf Friedrich von Hessen abgestanden worden sind, da er beschlossen
hat, seine letzten Tage in Köln zu verbringen.“ In der folgenden
Ausgabe, datiert den 5. Februar, erfährt man, daß „fünfhundert
Bauern im Verein mit den Soldaten an den Verstärkungen des Rheinfels
arbeiten.“ Fünfzehn Tage später proklamiert sie, daß
„der Graf von Thingen Ketten über den Rhein spannen und Schreckschanzen
bauen“ läßt. Wovor flüchtete der Landgraf? Wozu
arbeiteten die fünfhundert Bauern mit den Soldaten? Weshalb diese
Schanzen und Ketten so hastig über den Rhein spannen? Weil Ludwig
der Große die Stirne gerunzelt hat. Der Krieg mit Deutschland
soll wieder beginnen.
Heute dient der Rheinfels, an dessen Eingang noch stets die herzögliche,
in rotem Sandstein in die Mauer gehauene, Krone der Landgrafen zu sehen
ist, als Nebengebäude einer Meierei. Einige Weinpflanzen wachsen
hier, wo zwei oder drei Ziegen weiden. Abends bildet die Ruine mit ihren
offenen Fenstern vor dem Himmel in ihrer Gesamheit eine großartige
Masse.
Weiter rheinaufwärte, eine Meile (die Preußische Meile mißt
ebenso wie die spanische legua, wie der türkische Stundenmarsch,
zwei französische ligues) von Sankt Goar stößt man beim
Einschnitt zweier Berge plötzlich eine schöne altertümliche
Stadt, die sich von der halben Anhöhe bis zum Rheinufer erstreckt,
mit alten Gassen, wie man sie in Paris nur noch in den Kulissen der
Oper antrifft, vierzehn zinnenbekrönte Türme, mehr oder weniger
von Efeu überrankt und zwei große Kirchen im Stil reinster
Gotik. Das ist Oberwesel, eine der Städte am Rhein, die am meisten
Krieg geführt hat. Die alten Mauern von Oberwesel sind von Kanonen-
und Gewehrkugeln durchsiebt. Hier lassen sich wie auf einem Palimpsest
die großen Kugeln des Erzbischofs von Trier, die Musketenkugeln
Ludwigs XIV. und unsere Mörser herauslesen. Heute gibt es in Oberwesel
nur noch einen alten Soldaten, der Winzer geworden ist. Sein Rotwein
ist ausgezeichnet.
Wie fast alle Städte am Rhein besitzt Oberwesel auf seinem Berg
eine Schloßruine, den Schönberg – einer der bewundernswertesten
Schuttberge Europas. Auf dem Schönberg wohnten im zehnten Jahrhundert
die sieben spöttischen und grausamen Jungfrauen, verwandelt in
sieben Felsen im Rhein, die man noch heute durch die Breschen ihres
Schlosses sehen kann.
Der Ausflug von Sankt Goar nach Oberwesel ist reich an Anziehungspunkten.
Der Weg verläuft neben dem Rhein, der sich plötzlich zurückzieht
und zwischen zwei Bergen verengt. Kein Haus, fast keiner der vorübergeht.
Der Ort ist verlassen, still und wild. Die großen, halbzerfallenen
Schieferbänke ragen aus dem Strom und bedecken das Ufer wie Riesenhaufen
Schildpatt. Von Zeit zu Zeit erahnt man halb von den Dornsträuchern
und Weidenbüschen bedeckt und wie am Rheinufer im Hinterhalt eine
Art riesiger Spinnen, die aus zwei langen, biegsamen Stangen bestehen,
die kreuzweise übereinanderliegen und in der Mitte, an ihrem höchsten
Punkt mit einem Ausleger verknotet sind, während sie mit ihren
vier Ecken im Wasser hängen. Diese Spinne ist ein Springnetz.
Bisweilen bewegt sich der seltsame Hebearm in dieser Einsamkeit und
Stille und man sieht, wie sich das scheußliche Biest langsam hebt,
zwischen seinen Armen sein Tuch, in dessen Mitte sich ein schöner
silberner Lachs dreht und windet.
Abends, nach einem dieser herrlichen Ausflüge, die die tiefsten
Höhlungen des Magens bis zum Blinddarm öffnen, kehrt man nach
Sankt Goar zurück und findet am Ende einer langen, mit einigen
schweigenden Rauchern besetzten Tafel, eines jener ausgezeichneten und
rechtschaffenen Abendessen, deren Rebhühner größer als
Haushühner sind. Dort speist man aufs Beste, insbesondere wenn
man sich wie der reisende Odysseus in die Gebräuche der Völker
zu schicken weiß und man vernünftig genug ist, keinen Anstoß
an gewissen seltsamen Begegnungen zu nehmen, die manchmal auf demselben
Teller stattfinden, beispielsweise gebratene Ente mit Apfelmus oder
Wildschweinskopf mit einem Glas Konfitüre. Gegen Ende des Abendessens
erschallt plötzlich von draußen eine Fanfare, während
eine Flinte abgefeuert wird. Man eilt zum Fenster: Es ist der französische
Husar, der das Echo von Sankt Goar bedient. Das Echo von Sankt Goar
ist nicht weniger denkwürdig als das Echo der Loreley. Die Sache
ist wirklich erstaunlich. Jeder Pistolenschuß wird zwischen diesen
Bergen zu einem Kanonendonner. Jeder Fanfarenstoß wiederholt sich
mit einer außergewöhnlichen Reinheit in der dunklen Tiefe
der Täler. Das sind köstliche, ausgezeichnete, gedämpfte,
verklingende, leicht ironische Synfonien, die sich über Euch lustig
machen und Euch schmeicheln. Das es unmöglich ist zu glauben, daß
dieser große, schwere, schwarze Berg so viel Witz haben kann,
gibt man nach einigen Augenblicken der Täuschung hin und selbst
der sachlichste Zweifler ist bereit zu schwören, daß da unten
in den Schatten unter irgendwelchem phantastischen Gehölz ein übernatürliches,
einsames Wesen, irgendeine Fee, eine Titania, sich einen Spaß
daraus macht die menschliche Musik aufs Köstlichste zu parodieren
und jedes Mal wenn sie einen Gewehrschuß hört, einen Berg
auf den Grund wirft. Es ist gleichzeitig zauberhaft und grauenhaft.
Die Wirkung wäre noch nachhaltiger, wenn man für einen Augenblick
vergessen könnte, daß man am Fenster eines Gasthauses steht
und daß diese außergewöhnliche Empfindung einem wie
ein weiterer Teller während des Nachtischs serviert wird. Aber
alles vollzieht sich auf die natürlichste Weise der Welt. Nachdem
das Schauspiel beendet ist, macht ein Kellner des Gasthauses mit einem
Zinnteller die Runde, um für den Husaren, der sich würdevoll
in einer Ecke aufhält, die milde Gabe entgegenzunehmen, und alles
ist vorbei. Jeder zieht sich zurück, nachdem er sein Echo bezahlt
hat.
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