Victor Hugo
Der Rhein. Briefe an einen Freund

Brief XVII

 

Sankt Goar, August

Man kann in Sankt Goar sehr gut eine Woche zubringen. Man sollte darauf achten, daß man im sehr komfortablen Gasthaus Zur Lilie ein Zimmer mit Blick auf den Rhein nimmt. Man wohnt dann zwischen Burg Katz und Burg Maus. Zur Linken hat man die Maus, die am Horizont halbverhüllt im Nebel des Rheins steht; zur Rechten und vor sich die Katz, der starke von Wachtürmen umgebene Bergfried, der oben auf dem Hügel die Spitze eines Dreiecks einnimmt, dessen beide Ecken von den alten Türmen – der eine viereckig, der andere Rund – des malerischen Dorfs Sankt Goarshausen besetzt werden, das die Basis am Rheinufer bildet. – Die beiden feindlichen Burgen belauern sich und scheinen sich über das Land hinweg blitzende Blicke zuzuwerfen, denn obwohl eine Burg eine Ruine ist, schaut sein Fenster noch, jedoch mit dem entstellten Ausdruck eines verwundeten Auges.
Gegenüber, auf dem rechten Ufer und bereit, die beiden Feinde zur Ordnung zu rufen, wacht das kolossale Gespenst des Burg-Palasts der hessischen Landgrafen, Rheinfels.
In Sankt Goar ist der Rhein kein Fluß mehr, sondern ein See, ein wahrhaftiger Jurasee, mit seiner düsteren Umrahmung, seine tiefen Spiegelungen und seinem gewaltigen Getöse, von allen Seiten unschlossen.
Bleibt man zu Hause, dann genießt man den ganzen Tag über das Schauspiel des Rheins, die Flöße, die langen Segelschiffe, die kleinen gepfeilten Nachen und die acht oder zehn Dampffähren, die kommen und gehen, stromauf und stromab fahren und ständig wie ein schwimmender Hund plätschernd, qualmend und mit wehenden Fahnen vorbeifahren. In der Ferne erkennt man auf dem gegenüberliegenden Ufer unter den hübschen Nußbäumen, die eine Wiese überschatten, wie die Soldaten des Herrn von Nassau in grünem Rock und weißer Hose exerzieren, und man hört den Trommelschlag des Tambours eines kleinen souveränen Fürsten. Ganz dicht unter dem Fenster beobachtet man die Frauen von Sankt Goar, wie sie in ihrer himmelblauen Haube vorübergehen, die aussieht wie eine Tiara, die man mit einem Faustschlag angepaßt hat, und man hört eine Horde kleiner Kinder lachen und schwatzen, die gerade am Rhein gespielt haben. Weshalb nicht? Die von Tréport und Étretat spielen auch am Meer. Die Kinder am Rhein sind übrigens reizend. Keines hat beispielsweise den boshaften und ernsten Ausdruck der englischen Knirpse. Die Züge der deutschen sind wohlwollend, wie die der alten Pfaffen.
Wer ausgehen will, kann für sechs Sous – der Preis für einen Pariser Bus – den Rhein überqueren und zur «Katz» aufsteigen. In diesem Herrensitz der Barone von Katzenelnbogen spielte sich 1471 das schaurige Abenteuer des Kaplans Johann von Barnich ab. Heute ist die «Katz» eine schöne Ruine, die der Herzog von Nassau einem preußischen Major für jährlich vier oder fünf Gulden zum Nießbrauch verpachtet hat. Drei oder vier Besucher zahlen die Pacht. Ich habe das Buch durchgeblättert, in das sich die Fremden einschreiben und habe auf dreißig Seiten – etwa ein Jahr – nicht einen einzigen französischen Namen entdecken können. Überwiegend deutsche Namen, einige englische, zwei oder drei Italiener, das ist das ganze Verzeichnis. Im übrigen ist das Innere der «Katz» vollständig zerstört. Der Untersaal des Turms, wo der Kaplan das Gift für die Gräfin zubereitete, dient heute als Keller. Ein paar mickrige Weinranken winden sich um ihre Rebpfähle, wo sich einst der Ahnensaal befand. In einem kleinen Gemach, dem einzigen mit Tür und Fenster, hat man einen Stich an die Mauer geheftet, der Bohdan Chmelnykyj darstellen soll, unter dem steht: Belli servilis autor (sic) rebelliumque Cosaccorum et plebis Ukraynen. Der großartige zaporawische Anführer, ausstaffiert in einer Tracht, halb moskowitisch, halb türkisch, scheint – möglicherweise durch einen Fehler des Stechers – zwei oder drei Bildnissen von zwei oder drei regierenden Fürsten, die neben ihm hängen, zuzuzwinkern.
Von der Höhe der «Katz» fällt das Auge hinunter auf den berühmten Mælstrom der «Bank». Zwischen der Bank und dem rechteckigen Turm von Sankt Goarshausen besteht nur eine enge Durchfahrt. Auf der einen Seite der Strudel – auf der anderen der Fels. Man trifft am Rhein sogar auf Scilla und Charybdis… Während der Überquerung dieser gefürchteten Stelle befestigen die Flöße an einem sehr langen Seil einen Baumstamm, den sie «Hund» nennen; in dem Augenblick, wo sie zwischen der Bank und dem Turm hindurch sind, werfen sie den Stamm zur Bank hinüber. Die Bank beeilt sich den Baumstamm zu fassen und macht ihn dort fest. Auf diese Weise hält das Floß Abstand zum Turm. Sobald die Gefahr vorüber ist, durchtrennt man das Seil und der Schlund frißt den «Hund». Ein Bissen für diesen Zerberus.
Während man auf der Plattform der Katz steht, fragt man seinen Führer: Wo ist denn die Bank? Er weit zu Ihren Füßen auf einen kleinen Knick im Rhein. Dieser Knick, das ist der Strudel.
Man darf die Abgründe nicht nach ihrem Aussehen beurteilen.
Ein wenig weiter als die «Bank» steigt auf und fällt in einer der wildesten Biegungen fast senkrecht der sagenhafte Felsen der Loreley in den Rhein, der mit seinen tausend Schichten aus Granit aussieht, wie eine eingestürzte Treppe. Hier gibt es ein berühmtes Echo, das, so heißt es, sieben Mal wiederholt, was man sagt oder singt.
Müßte ich nicht befürchten als ein Mann dazustehen, der den Ruf der Echos in Zweifel zu ziehen, würde ich bekennen, daß mir das Echo nie mehr als fünfmal geantwortet hat. Es ist wahrscheinlich, daß die Oreade der Loreley, der einst so viele sagenhafte Prinzen und Grafen huldigten, heiser zu werden und sich zu langweilen beginnt. Diese arme Nymphe hat nurmehr einen einzigen Anbeter, der sich ihr gegenüber am anderen Rheinufer zwei kleine Nischen in den Fels gehauen hat und seinen Tag damit verbringt, ihr das Jagdhorn zu spielen und Schüsse aus dem Gewehr ertönen zu lassen. Dieser Mann, der dem Echo Arbeit besorgt und dort lebt, ist ein tapferer alter französischer Husar.
Auf einen Spaziergänger, der es nicht erwartet, macht das Echo der Loreley durchaus Eindruck. Ein Nachen, der an dieser Stelle mit seinen kleinen Riemen den Rhein überquert, verursacht einen gewaltigen Lärm. Schließt man die Augen, glaubt man sich auf einer maltesischen Galeere mit fünfzig großen Riemen, deren jedes von vier angeketteten Galeerensklaven gerudert wird.
Beim Abstieg von der «Katz» sollte man, bevor man Sankt Goarshausen verläßt, eine kleine Gasse aufsuchen, die parallel zum Rhein verläuft, in der ein reizendes deutsches, von seinen Bewohnern selbstverständlich stark vernachlässigtes Renaissancehaus steht. Dann wendet man sich nach rechts, überquert die Brücke über einen Bach und betritt im Lärm der Wassermühlen ein «Schweizertal», ein prachtvolle, nahezu alpine Schlucht, die von einem Abhang des Petersbergs und einer der Hinterwände der Loreley gebildet wird.
Das Schweizertal ist ein schöner Spaziergang. Man geht, man kommt, man besucht die Dörfer in der Höhe, man begibt sich in enge Felsspalten, die so dunkel und einsam sind, daß ich in einer von einem Eber frisch aufgewühlte Erde und aufgebrochenes Gras entdeckt habe. Man kann auch dem Grund der Schlucht folgen, zwischen den Felsen hindurch, die Zyklopenmauern gleichen und unter den Weiden und Erlen. Dort kann man für sich, vollkommen umschlossen von einem Abhang aus Blättern und Blumen den ganzen Tag umherschweifen, träumen und dem Geplauder des Bachs und des Fußsteigs lauschen, wie ein Freund, der als Dritter einem intimen Beisammensein beiwohnt. Wenn man sich dann den ausgefahrenen Straßen, den Höfen und Mühlen nähert, erscheint Einem alles, was Einem begegnet, zuvor arrangiert und zusammengestellt, um die Ecke einer Landschaft in einem Gemälde von Poussin einzurichten. Da ist ein halbbekleideter Hirte allein mit seiner Herde in einem Feld aus fahlen Farben, der auf einer Art altertümlicher Schalmei wunderliche Melodien bläst. Da ist ein Karren, der von Ochsen gezogen wird, wie ich sie auf den Vignetten von Virgile-Herhan gesehen hat, in die ich mich in meiner Kindheit vertiefte. Zwischen dem Joch und der Stirn der Ochsen befindet sich ein kleines Lederkissen, bestickt mit roten Blumen und prangenden Arabesken. Da sind die Mädchen, barfuß und frisiert wie spätrömische Statuen. Ein reizendes Mädchen erblickte ich: Sie saß bei einem Herd, um Früchte zu trocknen, die leicht dampften. Sie erhob ihre großen blauen, traurigen Augen gen Himmel, die wie zwei Mandeln aussahen, die aus ihrem sonnengebräunten Gesicht ausgeschnitten waren. Ihr Hals war mit Glasperlen und Halsbändern behängt, die geschickt den Ansatz eines Kropfs verdeckten. Diese Mißbildung an dieser Schönheit – man hätte meinen können, es handele sich um eine vor ihrem Altar kauernde indische Götze.
Unvermittelt überquert man eine Weide, die Hänge der Schlucht weichen zurück und man gewahrt eine herrliche Ruine, die steil vom Gipfel eines bewaldeten Hügels aufragt. Dieses Schloß ist der Reichenberg. Hier wohnte zur Zeit des Faustrechts im Mittelalter einer der berüchtigtsten Raubritter, die sich selbst «Landschaden» nannten. Die benachbarte Stadt mochte klagen; der Kaiser mochte den Wegelagerer vor den Reichstag zitieren; der Mann aus Eisen schloß sich in sein Haus aus Granit ein, setzte unverdrossen seine Orgie der Allmacht und der Dieberei fort und lebte, durch die Kirche exkommunziert, vom Reichstag verurteilt, vom Kaiser verfolgt, bis ihm der weiße Bart auf den Bauch reichte. Ich habe den Reichenberg betreten. Es gibt in der homerischen Räuberhöhle nichts als wilde Skabiosen, Schatten zerbrochener Fenster, die durch die Trümmer wandern, zwei oder drei Kühe, die das Gras der Ruine abweiden, über der großen Tür Reste von Wappen, die mit dem Hammer zerschlagen wurden und da und dort unter den Füßen des Reisenden von Reptilien aufgelockertes Gestein.
Ich habe hinter dem Hügel des Reichenberg einige Bruchbuden eines Dorfs aufgesucht, die inzwischen kaum zu erkennen von einem aufgelassenen Dorf stammen, daß sich Badersdorf nannte. Mit diesem Dorf hatte es Folgendes auf sich:
Der Teufel, der nach Friedrich Barbarossa wegen seiner zahlreichen Kreuzzüge trachtete, hatte eines Tages den Einfall, ihm den Bart abzuschneiden. Das war ein wahrhaftiges Schelmenstück, sehr passend zum Teufel gegenüber dem Kaiser. Er richtete es daher mit Hilfe einer örtlichen Dalila ein, daß der Kaiser durch irgendeinen unwahrscheinlichen Verrat auf seinem Weg durch Bacharach in Schlaf versetzt und daraufhin von einem der Barbiere des Ortes rasiert würde. Barbarossa hatte sich jedoch, als er erst Herzog von Schwaben war, während seiner Zeit der Liebschaft mit der schönen Gela, einer alten Fee der Wisper verpflichtet, die sich entschloß, den Plan des Teufels zu durchkreuzen. Die kleine Fee, die nicht größer als ein Grashüpfer war, fand unter ihren Freunden einen überaus dummen Riesen, von dem sie sich seinen Sack auslieh. Der Riese willigte ein und bot sogar großzügig an, sie zu begleiten – ein Angebot, das die Fee nicht ausschlug. Die kleine Fee machte sich vermutlich etwas größer, bevor sie in Nacht vor der Durchreise des Kaisers nach Bacharach ging, nahm die Barbiere des Orts einen nach dem anderen und steckte sie in den Sack des Riesen. Dann forderte sie den Riesen auf, den Sack auf seine Schultern zu nehmen und ihn weit fortzuschaffen, egal wohin. Der Riese, der, weil es Nacht war und er so dumm, nichts von dem mitbekommen hatte, was die Alte getan hatte, gehorchte und ging mit dem Sack über der Schulter mit großen Schritten durchs schlafende Land. Währenddessen begannen die Barbiere, die gegeneinander purzelten, zu erwachen und in dem Sack durcheinanderzuwimmeln. Der Riese erschrak und verdoppelte seinen Schritt. Als er über den Reichenberg kam und wegen des großen Turms sein Bein ein wenig höher heben mußte, nahm einer der Barbiere das Rasiermesser, welches bei sich trug, aus der Tasche und schnitt ein großes Loch in den Sack, durch das alle Barbiere ein wenig zerdrückt und zerschlagen und unter Geschrei hinaus ins Gestrüpp fielen. Der Riese, der glaubte, ein Nest voll Teufel auf seinem Rücken zu haben, rettete sich so schnell ihn seine Beine trugen. Am folgenden Morgen, als der Kaiser durch Bacharach kam, gab es im ganzen Land keinen Barbier, und als Beelzebub seinerseits eintraf, rief ein spottender Rabe, der sich auf dem Stadttor niedergelassen hatte, dem Herrn Teufel zu: Mein Freund, du trägst mitten in deinem Gesicht ein sehr großes Ding, das du selbst im besten Spiegel nicht sehen kannst, das heißt, ein Lange Nase. – Seit dieser Zeit gibt es in Bacharach keine Barbiere. Es soll selbst heute unmöglich sein, einen Badersladen zu finden. Was die Barbiere betrifft, die von der Fee fortgezaubert wurden, so ließen sie sich an demselben Ort nieder, wo sie herausgefallen waren und errichteten dort ein Dorf, das man Badersdorf nannte. Auf diese Weise bewahrte Friedrich I., genannt Rotbart, seinen Bart und seinen Nachnamen.
Außer der Maus, der Katz, der Loreley, dem Schweizertal und dem Reichenberg gibt es in der Nähe von Sankt Goar noch den Rheinfels, von dem ich Ihnen gleich berichten werde.
Ein im Innern ganz ausgehöhlter Berg mit einem Kamm von Ruinen auf seinem Haupt, zwei oder drei Stockwerke mit unterirdischen Gemächern und Gängen, als wären sie von Riesenmaulwürfen gegraben worden; gewaltige Trümmer; riesige Säle mit Ogiven, die in der Öffnung fünfzig Fuß messen, sieben Verliese, die mit moderigem Wasser gefüllt sind, das einen Steinwurf flach und tot zurückwirft; der Lärm der Wassermühlen im kleinen Tal hinter dem Schloß und durch die Mauerrisse der Fassade hindurch der Rhein mit ein paar Dampfern, die aus dieser Höhe betrachtet einem großen grünen Fisch mit gelben Augen gleichen, der auf der Wasseroberfläche dahinzieht und dazu abgerichtet ist, Menschen und Wagen auf seinem Rücken zu tragen; ein in Geröll verwandeltes Ritterschloß der Landgrafen von Hessen; Schießscharten für Kanonen und Katapulte, die den Kerkern der wilden Tiere der antiken römischen Arenen gleichen, in denen das Gras wächst; an einigen Stellen halb in die alte, aufgebrochene Mauer eingelassen eine eingefallene, verschüttete Wendeltreppe, deren Spirale in die Luft ragt, wie eine gigantische antediluvianische Muschel; unbehauener Schiefer und Basalt, die den Archivolten das Profil von Sägen und geöffneten Gebissen verleihen; dickbauchtige Ringmauern, die in einem Stück umgefallen sind, oder besser ausgedrückt, sich auf auf die Seite gelegt haben, als wären sie zu müde, um aufrecht zu sehen – das ist der Rheinfels. All das sieht man für zwei Sous.
Es scheint als bebe die Erde unter dieser Ruine. Es ist kein Erdbeben, sondern Napoleon, der hier durchzieht. Im Jahr 1807 hat der Kaiser Rheinfels gesprengt.
Seltsame Sache – Alles ist eingefallen, außer den vier Wänden der Kapelle. Man betritt diesen Ort des Friedens, der als einziger inmitten dieser gigantischen geschleiften Zitadelle erhalten ist, mit einem gewissen Gefühl der Melancholie. In den Fensterdurchbrüchen liest man folgende tiefgründige Inschriften: — Sanctus Franciscus de Paula vixit 1500. Sanctus Franciscus vixit 1526. — Sanctus Dominicus vixit... (ausgelöscht). Sanctus Albertus vixit 1292. — Sanctus Norbertus, 1150. Sanctus Bernardus, 1139. — Sanctus Bruno, 1115. Sanctus Benedictus, 1140. — Es gibt noch einen ausgelöschten Namen, bevor man, nachdem man sich auf diese Weise von Aureole zu Aureole die christlichen Jahrhunderte hinaufgearbeitet hat, zu drei majestätischen Zeilen gelangt:
Sanctus Basilius magnus, episc. Cœsareœ Cappadoci, magister monachorum orientalium, vixit anno 372 – neben Basilius dem Großen, unter derselben Tür der Kapelle, stehen diese zwei Namen: Sanctus Antonius magnus. Sanctus Paulus eremita. Soweit dasjenige, was die Bombe und die Mine verschont hat.
Dies prächtige Schloß, das unter Napoleon zerstört wurde, hat vor Ludwig XIV. gezittert. Die alte Gazette de France, die im Adreßbüro im Halbgeschoß des Louvre gedruckt wurde, verkündet für den 23. Januar 1693, daß der „Landgraf von Hessen-Kassel die Stadt Sankt Goar und den Rheinfels eingenommen hat, die ihm vom Landgraf Friedrich von Hessen abgestanden worden sind, da er beschlossen hat, seine letzten Tage in Köln zu verbringen.“ In der folgenden Ausgabe, datiert den 5. Februar, erfährt man, daß „fünfhundert Bauern im Verein mit den Soldaten an den Verstärkungen des Rheinfels arbeiten.“ Fünfzehn Tage später proklamiert sie, daß „der Graf von Thingen Ketten über den Rhein spannen und Schreckschanzen bauen“ läßt. Wovor flüchtete der Landgraf? Wozu arbeiteten die fünfhundert Bauern mit den Soldaten? Weshalb diese Schanzen und Ketten so hastig über den Rhein spannen? Weil Ludwig der Große die Stirne gerunzelt hat. Der Krieg mit Deutschland soll wieder beginnen.
Heute dient der Rheinfels, an dessen Eingang noch stets die herzögliche, in rotem Sandstein in die Mauer gehauene, Krone der Landgrafen zu sehen ist, als Nebengebäude einer Meierei. Einige Weinpflanzen wachsen hier, wo zwei oder drei Ziegen weiden. Abends bildet die Ruine mit ihren offenen Fenstern vor dem Himmel in ihrer Gesamheit eine großartige Masse.
Weiter rheinaufwärte, eine Meile (die Preußische Meile mißt ebenso wie die spanische legua, wie der türkische Stundenmarsch, zwei französische ligues) von Sankt Goar stößt man beim Einschnitt zweier Berge plötzlich eine schöne altertümliche Stadt, die sich von der halben Anhöhe bis zum Rheinufer erstreckt, mit alten Gassen, wie man sie in Paris nur noch in den Kulissen der Oper antrifft, vierzehn zinnenbekrönte Türme, mehr oder weniger von Efeu überrankt und zwei große Kirchen im Stil reinster Gotik. Das ist Oberwesel, eine der Städte am Rhein, die am meisten Krieg geführt hat. Die alten Mauern von Oberwesel sind von Kanonen- und Gewehrkugeln durchsiebt. Hier lassen sich wie auf einem Palimpsest die großen Kugeln des Erzbischofs von Trier, die Musketenkugeln Ludwigs XIV. und unsere Mörser herauslesen. Heute gibt es in Oberwesel nur noch einen alten Soldaten, der Winzer geworden ist. Sein Rotwein ist ausgezeichnet.
Wie fast alle Städte am Rhein besitzt Oberwesel auf seinem Berg eine Schloßruine, den Schönberg – einer der bewundernswertesten Schuttberge Europas. Auf dem Schönberg wohnten im zehnten Jahrhundert die sieben spöttischen und grausamen Jungfrauen, verwandelt in sieben Felsen im Rhein, die man noch heute durch die Breschen ihres Schlosses sehen kann.
Der Ausflug von Sankt Goar nach Oberwesel ist reich an Anziehungspunkten. Der Weg verläuft neben dem Rhein, der sich plötzlich zurückzieht und zwischen zwei Bergen verengt. Kein Haus, fast keiner der vorübergeht. Der Ort ist verlassen, still und wild. Die großen, halbzerfallenen Schieferbänke ragen aus dem Strom und bedecken das Ufer wie Riesenhaufen Schildpatt. Von Zeit zu Zeit erahnt man halb von den Dornsträuchern und Weidenbüschen bedeckt und wie am Rheinufer im Hinterhalt eine Art riesiger Spinnen, die aus zwei langen, biegsamen Stangen bestehen, die kreuzweise übereinanderliegen und in der Mitte, an ihrem höchsten Punkt mit einem Ausleger verknotet sind, während sie mit ihren vier Ecken im Wasser hängen. Diese Spinne ist ein Springnetz.
Bisweilen bewegt sich der seltsame Hebearm in dieser Einsamkeit und Stille und man sieht, wie sich das scheußliche Biest langsam hebt, zwischen seinen Armen sein Tuch, in dessen Mitte sich ein schöner silberner Lachs dreht und windet.
Abends, nach einem dieser herrlichen Ausflüge, die die tiefsten Höhlungen des Magens bis zum Blinddarm öffnen, kehrt man nach Sankt Goar zurück und findet am Ende einer langen, mit einigen schweigenden Rauchern besetzten Tafel, eines jener ausgezeichneten und rechtschaffenen Abendessen, deren Rebhühner größer als Haushühner sind. Dort speist man aufs Beste, insbesondere wenn man sich wie der reisende Odysseus in die Gebräuche der Völker zu schicken weiß und man vernünftig genug ist, keinen Anstoß an gewissen seltsamen Begegnungen zu nehmen, die manchmal auf demselben Teller stattfinden, beispielsweise gebratene Ente mit Apfelmus oder Wildschweinskopf mit einem Glas Konfitüre. Gegen Ende des Abendessens erschallt plötzlich von draußen eine Fanfare, während eine Flinte abgefeuert wird. Man eilt zum Fenster: Es ist der französische Husar, der das Echo von Sankt Goar bedient. Das Echo von Sankt Goar ist nicht weniger denkwürdig als das Echo der Loreley. Die Sache ist wirklich erstaunlich. Jeder Pistolenschuß wird zwischen diesen Bergen zu einem Kanonendonner. Jeder Fanfarenstoß wiederholt sich mit einer außergewöhnlichen Reinheit in der dunklen Tiefe der Täler. Das sind köstliche, ausgezeichnete, gedämpfte, verklingende, leicht ironische Synfonien, die sich über Euch lustig machen und Euch schmeicheln. Das es unmöglich ist zu glauben, daß dieser große, schwere, schwarze Berg so viel Witz haben kann, gibt man nach einigen Augenblicken der Täuschung hin und selbst der sachlichste Zweifler ist bereit zu schwören, daß da unten in den Schatten unter irgendwelchem phantastischen Gehölz ein übernatürliches, einsames Wesen, irgendeine Fee, eine Titania, sich einen Spaß daraus macht die menschliche Musik aufs Köstlichste zu parodieren und jedes Mal wenn sie einen Gewehrschuß hört, einen Berg auf den Grund wirft. Es ist gleichzeitig zauberhaft und grauenhaft. Die Wirkung wäre noch nachhaltiger, wenn man für einen Augenblick vergessen könnte, daß man am Fenster eines Gasthauses steht und daß diese außergewöhnliche Empfindung einem wie ein weiterer Teller während des Nachtischs serviert wird. Aber alles vollzieht sich auf die natürlichste Weise der Welt. Nachdem das Schauspiel beendet ist, macht ein Kellner des Gasthauses mit einem Zinnteller die Runde, um für den Husaren, der sich würdevoll in einer Ecke aufhält, die milde Gabe entgegenzunehmen, und alles ist vorbei. Jeder zieht sich zurück, nachdem er sein Echo bezahlt hat.

Victor Hugo, Der Rhein - Briefe an einen Freund, Köln 2012