Victor Hugo
Der Rhein. Briefe an einen Freund

Brief XVIII

 

Lorch, 23. August

Ich befinde mich in diesem Augenblick in den hübschesten, biedersten und unbekanntesten Altstädten der Welt. Ich wohne in den Innenausstattungen Rembrandts mit Käfigen voller Vögeln in den Fenstern, merkwürdigen Lampen an der Decke und, in einer Ecke des Zimmers, einer Wendeltreppe, an der die Sonnenstrahlen langsam emporsteigen. Eine alte Frau und ein Spinnrad mit gedrechselten Füßen brummen im Schatten um die Wette.
Ich habe drei Tage in Bacharach verbracht, eine Art Cour-des-Miracles am Rheinufer, der vom guten voltarischen Geschmack, der Französischen Revolution, den Schlachten Ludwigs XIV., den Kanonaden von 97 und 1805 und den eleganten und weisen Architekten übersehen wurde, welche Häuser in Form von Kommoden und Sekretären entwerfen. Bacharach ist sicher die älteste Anhäufung menschlicher Behausungen, die ich in meinem Leben gesehen habe. Neben Bacharach sind Oberwesel, Sankt Goar und Andernach eine Rue de Rivoli und die Cités Bergères. Bacharach ist das antike Bacchi ara. Es heißt, ein Riese, der mit Trödel handelte, wollte einen Laden am Rhein eröffnen, nahm einen Berg als Regal und verteilte nach dem Geschmack eines Riesen eine große Menge außergewöhnlicher Kuriositäten. Das beginnt schon unter dem Rhein. Es befindet sich dort an der Wasseroberfläche ein Vulkanfelsen, wie die einen, eine keltische Opferstätte, wie die anderen sagen, ein römischer Alter, wie schließlich die Dritten meinen, den man Ara Bacchi nennt; am Flußufer zwei oder drei alte wurmstichige Schiffsrümpfe, die man durchgeschnitten und umgekehrt auf den Boden gestellt hat und den Fischern als Hütten dienen; hinter den Hütten eine Wehrmauer, die früher einmal von Zinnen gekrönt war und von vier überaus stark beschädigten, zerschossenen, eingefallenen viereckigen Türmen flankiert wird.
Dann, gegen diese Ringmauer an, nach dessen Seite die Häuser mit Fenstern und Galerien versehen sind und jenseits davon, am Fuß des Bergs, ein unbeschreibliches Durcheinander drolliger Gebäude, schmucker Bruchbuden, phantastischer Türme, buckliger Fassaden, schräger Giebel, aus deren doppelter Abstufung auf jedem Absatz Türmchen wie Spargel herauswachsen; schweres Gebälk, das sich in zarten Arabesken auf den Häusern abzeichnet; geschnörkelte Speicher; offene Balkons; Schornsteine in der Form von Tiaren und Kronen, die philosophisch mit Rauch gefüllt sind; extravagante Wetterfahnen, die keine Wetterfahnen mehr sind, sondern Majuskeln alter Manuskripte, die mit dem Locheisen aus dem Blech gestanzt wurden und im Wind quietschen. (Ich sah unter anderem über mir ein R, das die ganze Nacht hindurch seinen Namen rief: —rrrrr.) In diesem bewundernswerten Kuddelmuddel liegt ein Platz – ein gewundener Platz, der von von einer Anzahl Häuser gebildet wird, die wie zufällig vom Himmel gefallen zu sein scheinen, und der mehr Einbuchtungen, Inseln, Riffe und Vorsprünge hat, als ein norwegischer Fjord. An der einen Seite des Platzes befinden sich zwei Polyeder aus gotischen Gebilden, die, überhängend, schief und faltig, sich gegen alle Regeln der Geometrie und des Gleichgewichts aufrechterhalten. An der anderen Seite eine schöne, seltene romanische Kirche mit einem rautenförmigen Portal, das von einem hohen, salutierenden Turm überragt wird; deren Apsis von einer Galerie kleiner Archivolten mit Säulen aus schwarzem Marmor umrändert ist und wie ein Schmuckkasten überall mit Renaissancegräbern überzogen ist. Über der byzantinischen Kirche liegt auf halber Höhe die Ruine einer anderen Kirche aus dem fünfzehnten Jahrhundert, in rotem Sandstein, ohne Türen, Dach oder Glasfenster, ein großartiges Skelett, das sich stolz gegen den Himmel abzeichnet. Endlich als Abschluß, auf der Höhe des Berges die Trümmer und Reste eines efeuüberwucherten Schlosses, das Schloß Stahleck, Wohnsitz der Pfalzgrafen im zwölften Jahrhundert. Das alles bildet Bacharach.
Die alte verwunschene Stadt, in der es von Geschichten und Legenden wimmelt, wird von einem malerischen Schlag bewohnt, die allesamt, alt wie jung, die Knirpse wie die Großväter, die kropfigen wie die hübschen Mädchen, in ihrem Blick, in ihrem Profil und in ihrer Haltung etwas vom dreizehnten Jahrhundert an sich haben.
Was die hübschen Mädchen nicht daran hindert, sehr hübsch zu sein, im Gegenteil.
Von der Höhe des Schlosses bietet sich eine weite Aussicht, und man entdeckt in den Felseinschnitten fünf weitere Schloßruinen; auf dem linken Ufer Fürstenberg, Sonneck und Heimburg; auf der anderen Seite des Stroms, im Westen, sieht man die Feste Gutenfels, die voll der Erinnerungen an Gustav Adolph ist; nach Osten, über dem märchenhaften Wispertal, auf dem First eines Hügels, steht auf einem Vorsprung wie auf einem Sockel ein Haufen schwarzer Türme, die an die alte Bastille von Paris denken lassen: der ungastliche Herrensitz, wo Sibo von Lorch sich weigerte, den Zwergen in einer stürmischen Nacht Einlaß zu gewähren.
Bacharach liegt in einer wilden Landschaft. Gewölk, das sich fast immer über den hohen Ruinen zusammenballt, steile Felsen, wilde Wasser umgeben respektgebietend diese alte, strenge Stadt, die römisch war, romanisch war, gotisch war und die nicht modern werden will. Beachtliche Sache, ein Gürtel aus Klippen hindert von allen Seiten das Anlegen der Dampfschiffe und hält die Zivilisation auf Abstand.
Weder ein störender Fleck noch eine weiße Fassade mit grünen Fensterläden stört die strenge Eintracht dieses Ensembles. Alles paßt hier zusammen, der Name eingeschlossen, Bacharach, der wie der alte Ruf der Bacchanten klingt, den man dem Sabbat anpaßte.
Ich muß übrigens als getreuer Geschichtsschreiber feststellen, daß ich eine Putzmacherin gesehen habe, die sich mit ihren rosa Bändern und weißen Hauben unter einer furchtbaren, vollkommen schwarzen Ogive des zwölften Jahrhunderts eingerichtet hatte.
Der Rhein braust herrlich um Bacharach herum. Es scheint, als liebe der seine alte Stadt, über die er stolz wacht. Man möchte rufen: „Gut gebrüllt, Löwe!“ Einen Armbrustschuß von der Stadt entfernt verfängt und windet er sich in einem Felsentrichter, um die Gischt und den Lärm des Meers zu imitieren. Diese schlimme Stelle nennt sich das «Wilde Gefähr». Sie erscheint viel schrecklicher, ist aber gleichzeitig viel weniger gefährlich als die «Bank» von Sankt Goar. – Man sollte die Strudel usw.
Sobald die Sonne durch eine Wolke bricht und aus dem Dachfenster des Himmels lacht, erscheint nichts bezaubernder als Bacharach. Alle betagten, mürrischen Fassaden erblühen und werden heiter. Die Schatten der Türmchen und Wetterfahnen weisen kreuz und quer in alle Richtungen. Die Blumen – Blumen gibt es überall – legen sich gleichzeitig mit den Frauen ins Fenster und auf allen Schwellen erscheinen Kinder und Alte in fröhlichem, friedvollem Durcheinander, um sich in der Mittagssonne gemeinsam zu wärmen – die Alten mit dem blassen Lächeln, das sagt: „Nicht mehr!“; die Kinder mit dem milden Blick der sagt: „Noch nicht!“ .
Inmitten der Menge dieser guten Leute sieht man einen preußischen Feldwebel kommen und gehen, wie er mit einem Ausdruck zwischen Hund und Wolf umherstolziert.
Ob es übrigens vom Geist des Landes oder der Eifersucht Preußens herrührt – ich habe in den Rahmen, die vor den Mauern der Gasthäuser hängen, keinen anderen großen Mann gesehen, als jenen Eroberer mit dem leichten Rokokogesicht, jene Gattung Napoleon-Ludwig XIV., den wahren Helden, wahren Denker und vor allem wahren Fürsten, den man Friedrich II. nennt.
In Bacharach ist ein Durchreisender ein Ereignis. Man ist nicht nur Fremder, man ist auch seltsam. Der Reisende wird mit staunenden Augen betrachtet und verfolgt. Das kommt daher, daß abgesehen von einigen armen Malern, die mit dem Ranzen auf dem Rücken unterwegs sind, niemand die alte, von den Pfalzgrafen verschmähte Kapitale besucht, das gefürchtete Loch, von dem sich die Dampfschiffe fernhalten und das von allen Rheinführern als trübseliger Ort beschrieben wird.
Unterdessen muß ich erneut gestehen, daß ich in einer Kammer neben meinem Zimmer eine Lithographie mit der Darstellung Europas sah, will heißen, zwei schöne Damen mit tiefem Ausschnitt und einem hübschen schnurrbärtigen Herrn, die an einem Piano singen, und unter dem folgende vier, für Bacharach unwürdige Zeilen standen:

Europa.
Europa, Zauberin, in deren Namen
Frankreich Gesetze flücht’ger Mode lehrt:
Vergnügen, Kunst und schöne Damen
Sind Götzen, die dein glücklich Volk verehrt.

Die Putzmacherin mit ihren rosa Bändern, diese Lithographie und dieser Vierzeiler aus dem Kaiserreich – das ist die Morgenröte des neunzehnten Jahrhunderts, die über Bacharach aufgeht.
Unter meinem Fenster hatte ich eine ganze glückliche und reizende Welt. Es war eine Art Hinterhof der romanischen Kirche, von der man über eine steile Lavatreppe zu den Ruinen der gotischen Kirche hinaufsteigen kann. Dort spielten den ganzen Tag im hohen Gras, das ihnen bis an die Knie reichte, drei kleine Jungen und zwei kleine Mädchen, die bereitwillig auf die Knaben einschlugen. Zuammen mochten sie fünfzehn Jahre alt sein. Der Rasen, der an einigen Stellen leichte Wellen aufwies, war so dicht, daß man den Grund nicht sah. Auf dem Rasen standen fröhlich zwei grüne, mit herrlichen Trauben überladene Lauben. Inmitten der Ranken bemühten sich zwei als Lubin aus der Komischen Oper verkleidete Vogelscheuchen mit Perücken und furchtbaren Dreispitzen, den kleinen Vögeln Angst einzujagen, was aber die Zeisige und Bachstelzen nicht davon abhielt, sich an den Trauben gütlich zu tun. In allen Ecken des Gärtchens prangten Sträuße von Sonnenblumen, Stockrosen und Gartenastern wie Garben eines Feuerwerks. Rings um die Büsche schwebte unablässig ein lebender Schnee aus weißen Schmetterlingen, unter die sich die Federn aus dem benachbarten Taubenschlag mengten. Jede Blume und jede Traube wurde überdies von Fliegen aller Art umschwärmt, die in der Sonne schimmerten. Die Fliegen summten, die Kinder schwatzten und die Vögel sangen, und das Summen der Fliegen, das Schwatzen der Kinder und der Gesang der Vögel hoben sich vom unablässigen Gurren der Turteltauben ab.
Am Abend meiner Ankunft, nachdem ich bis in die Nacht diesen herzerfreuenden Garten bewundert hatte, lud mich die Lavatreppe ein und weckte in mir die Lust, unter einem klaren Sternenhimmel bis zu den Ruinen der gotischen Kirche hinaufzugehen, die dem Hl. Werner gewidmet war, der in Oberwesel den Märtyrertod starb. Nachdem ich die sechzig oder achtzig Stufen ohne Absatz und Geländer hinaufgeklettert war, befand ich mich auf einer grasbewachsenen Plattform auf der sich das schöne, zerstörte Schiff gewaltig ausnimmt. Während die Stadt in tiefer Dunkelheit unter meinen Füßen schlief, betrachtete ich den Himmel und die entstellten Ruinen des Pfalzgrafenschlosses durch die von Pfosten und Rosetten gebildete schwarze Befensterung. Ein sanfter Nachtwind neigte leicht den trockenen Flughafer. Plötzlich fühlte ich, wie die Erde unter mir nachgab und ich einsank. Ich schaute hinunter und sah im Licht der Sterne, daß ich auf einem frisch ausgehobenen Graben stand. Um mich herum erblickte ich schwarze Kreuze mit weißen Totenköpfen, die überall standen. Ich erinnerte mich an die leichten Wölbungen des Bodens dort unten. Ich gestehe, daß ich mich in diesem Augenblick eines gewissen Schauders nicht erwehren konnte. Mein bezaubernder Garten mit den Kindern, Vögeln, Tauben, Schmetterlingen, der Musik, dem Licht, dem Leben und dem Frohsinn war ein Friedhof.

Victor Hugo, Der Rhein - Briefe an einen Freund, Köln 2012