Victor Hugo
Der Rhein. Briefe an einen Freund

Brief XX (Teil)

 

Bingen

...
Als die Sonne unterging, setzte ich meinen Weg fort.
Die Landschaft war bezaubernd und rauh. Ich ließ die gotische Kapelle Sankt Klemens hinter mich. Zu meiner Linken das rechte Rheinufer, voller Weinberge und Schiefer. Die letzten Sonnenstrahlen tauchten in der Ferne die berühmten Hänge von Assmannshausen in Rot, an deren Fuß der Nebel, möglicherweise der Rauch, Aulhausen, das Dorf der Töpfer, sehen ließ. Über dem Weg, dem ich folgte, über meinem Kopf erhoben sich stufenförmig von Berg zu Berg drei Burgen: der Reichenstein und der Rheinstein, zerstört durch Rudolf von Habsburg und vom Pfalzgrafen wiederaufgebaut, und der Vogtsberg, 1348 von Kuno von Falkenstein bewohnt und heute durch Friedrich von Preußen restauriert. Der Vogtsberg hat eine große Rolle in den Kriegen des Faustrechts gespielt. Der Erzbischof von Mainz verpfändete sie eines Tage an den Deutschen Kaiser für vierzigtausend Livre von Tours. Das erinnert mich, daß einmal Thibaut, Graf der Champagne, der nicht wußte, wie er sich gegenüber der Königin von Zypern einer Schuld entledigen sollte, seinem sehr lieben Herrn, Ludwig, König von Frankreich, die Grafschaft Chartres, die Grafschaft Blois, die Grafschaft Sancerre und die Vicomté Chateaudun in gleicher Weise für den Betrag von vierzigtausend Pfund verpfändete. Vierzigtausend Pfund, das ist heute der Preis, den ein pensionierter Amtsdiener für sein Landhaus in Bagatelle oder Pantin bezahlt.
Unterdessen achtete ich kaum auf diese Landschaft und ihre Erinnerungen. Seit der Tag sich neigte, hatte ich nur einen Gedanken. Ich wußte, daß ich, bevor ich Bingen erreichen würde, kurz vor der Mündung der Nahe auf ein merkwürdiges Bauwerk stoßen würde, ein düsteres Gemäuer, das im Röhricht mitten im Fluß zwischen zwei hohen Bergen steht. Dieses Gemäuer ist der Mäuseturm.
In meiner Kindheit hatte ich über meine Bett ein kleines Bild in einem schwarzen Rahmen hängen, die irgendein deutsches Dienstmädchen an der Wand befestigt hatte. Darauf war ein alter, freistehender, bemooster, verfallener Turm zu sehen, rings umgeben von einem tiefen schwarzen Wasser, das ihn in Dünste hüllte und von Bergen, in deren Schatten er lag. Der Himmel über diesem Turm war düster und voll drohener Wolken. Jeden Abend, nachdem ich zu Gott gebetet hatte, betrachtete ich vor dem Einschlafen dieses Bild, das während der Nacht in meinen Träumen erschien und mich mit Schrecken erfüllte. Der Turm wuchs an, das Wasser brodelte, ein Blitz fiel aus den Wolken, der Wind pfiff in den Bergen und schien für Augenblicke zu heulen. Eines Tags fragte ich die Magd, wie dieser Turm heißt. Sie antwortete, indem sie sich bekreuzigte, der Mäuseturm.
Und dann erzählte sie mir eine Geschichte. Daß es einmal zu Mainz, in ihrer Heimat, einen gemeinen Erzbischof namens Hatto gegeben hat, der auch Abt von Fulda war, ein geiziger Priester, wie sie sagte, der die Hand lieber zum Segnen als zum Geben ausstreckte. Daß er in einem schlechten Jahr allen Weizen kaufte, um ihn teuer an das Volk weiterzuverkaufen, denn der Priester wollte reich werden. Daß die Hungersnot so groß wurde, daß die Bauern in den Dörfern am Rhein vor Hunger starben. Daß daraufhin das weinende Volk sich um das Schloß von Mainz versammelte und nach Brot verlangte. Daß der Erzbischof es ihnen verweigerte. Hier wird die Geschichte fürchterlich. Das hungernde Volk zerstreute sich nicht, sondern umringte den Palast des Erzbischofs und seufzte. Der erzürnte Hatto ließ die armen Leute von seinen Bütteln umzingeln, die die Männer und Frauen, Alten und Kinder ergriffen und die Menge in eine Scheune sperrten und sie anzündeten. Das war ein Anblick, fügte die Dienstmagd hinzu, der die Steine weinen ließ. Hatto lachte nur, und während die Armen, die in den Flammen umkamen, Klageschreie ausstießen, sagte er: Hört ihr meine Ratten pfeifen? Am folgenden Tag war von der Scheune nichts als Asche. Es gab kein Volk von Mainz mehr. Die Stadt schien ausgestorben, als es plötzlich in der abgebrannten Scheune, wie die Maden in den Schwären des Assuerus, von Ratten zu wimmeln begann, die aus der Erde und zwischen den Pflastersteinen hervorkamen, aus den Mauerrissen hervorbrachen, unter dem Fuß, der sie zertrat, auferstanden, sich unter den Steinen und den Keulen vermehrten, die Straßen, die Festung, den Palast, die Keller, die Zimmer und Alkoven überströmten. Es war eine Geißel, es war eine Plage, es war ein scheußliches Gewimmel. Hatto verließ überstürzt Mainz und flüchtete sich aufs Land, verfolgt von den Ratten. Er beeilte sich, sich in Bingen mit seinen hohen Mauern einzuschließen, aber die Ratten überstiegen die Mauern und drangen nach Bingen ein. Da ließ der Erzbischof mitten im Rhein einen Turm errichten und flüchtete sich mit Hilfe eines Nachens dorthin, begleitet von zehn Schützen, die auf das Wasser schlugen. Die Ratten stürzten sich ins Wasser, überquerten den Rhein, krochen den Turm hinauf, zernagten die Türen, das Dach, die Fenster, die Dielen und die Decken, bis sie schließlich das tiefste Gelaß erreichten, in dem sich der armselige Erzbischof verborgen hatte, und fraßen ihn bei lebendigem Leib auf. – Seither ruht der Fluch des Himmels und der Schrecken der Menschen auf diesem Turm, der den Namen Mäuseturm trägt. Er ist verlassen. Er verfällt in der Mitte des Stroms zur Ruine und bisweilen, in der Nacht, sieht man einen seltsamen rötlichen Dunst aufsteigen, der dem Rauch einer Esse gleicht – das ist die Seele Hattos, die dahin zurückkehrt.
Haben Sie etwas bemerkt? Die Geschichte ist bisweilen unmoralisch, die Geschichten sind immer ehrlich, moralisch und tugendhaft. In der Geschichte gedeiht der Starke, die Tyrannen haben Erfolg, die Schinder befinden sich wohl, die Ungeheuer mästen sich, die Syllas werden gute Bürger, die Ludwig XI. und Cromwell sterben in ihrem Bett. In den Märchen ist die Hölle immer sichtbar. Kein Fehltritt, der nicht bestraft würde, manchmal sogar auf übertriebene Weise ; kein Verbrechen, auf das nicht die Marter folgte, zuweilen furchtbar; kein Bösewicht, der nicht unglücklich, oftmals bedauernswert endete. Das rührt daher, daß sich die Geschichte im Unendlichen, die Märchen aber im Endlichen bewegen. Der Mensch, der die Märchen erfindet, fühlt sich nicht berechtigt, Taten darzustellen, über deren Folgen man nur raten kann, denn er tappt im Dunkeln, ohne sich einer Sache gewiß zu sein und spürt die Notwendigkeit, Alles mit einer Belehrung, einem Rat und einer Lektion zu beschließen. Er wagt es nicht, Ereignisse ohne direkte Folgen zu erfinden. Gott, der die Geschichte macht, zeigt, was er vorhat und kennt den Rest.
Mäuseturm ist ein praktisches Wort. Man findet darin, was man darin sehen will. Es gibt aber Geister, die sich für gründlich halten, die aber nur unfruchtbar sind; die Allem die Poesie austreiben und stets bereit sind, ihr, wie der andere gründliche Mann zur Nachtigall zu sagen: „Willst Du still sein, böses Biest!“ Diese Geister führen an, daß Mäuseturm von Maus oder Maut kommt und Wegzoll bedeutet. Sie erklären, daß die Durchfahrt auf dem Rhein im zehnten Jahrhundert, bevor das Flußbett verbreitert wurde, nur am linken Ufer offen war und die Stadt Bingen mit Hilfe dieses Turms sein Recht der Schiffssperre ausgeübt hat. Sie weisen darauf hin, daß es in der Nähe von Straßburg zwei ähnliche Türme gibt, die ebenfalls der Erhebung einer Steuer von den Durchreisenden gewidmet sind und gleichfalls Mäuseturm heißen. Für diese Tiefdenker, die den Fabeln unzugänglich sind, ist der verdammte Turm ein Oktroi und Hatto ein Zöllner.
Für die guten Frauen aber, unter die ich mich begeistert einreihe, kommt Mäuseturm von Mäuse, was von Mus kommt und Ratte bedeutet. Das angebliche Zollhaus ist folglich der Mäuseturm und der Zöllner ein Gespenst.
Am Ende lassen sich beide Ansichten vereinbaren. Es ist nicht vollkommen unmöglich, daß Bürgermeister von kühnem Geist im sechzehnten oder siebzehnten Jahrhundert, nach Luther, nach Erasmus, Hattos Turm benutzt haben, um augenblicklich eine Station zur Erhebung von Steuer und Wegezoll in dem Spukturm eingerichtet haben. Warum nicht? Rom hat aus dem Tempel des Antonius eine Mautstelle, die dogana, gemacht. Was Rom mit der Geschichte gemacht hat, hat Bingen gut und gern mit der Legende machen können.
Auf diese Weise hätte Maut Recht und Mäuse nicht Unrecht.
Wie dem auch sei, seit eine alte Magd mir das Märchen von Hatto erzählt hat, gehörte der Mäuseturm zu meinen vertrauten Bildern in meinem Geist. Wie Sie wissen, gibt es keinen Menschen, der nicht seine Gespenster besäße, wie es auch keinen Menschen gibt, der nicht seine Hirngespinste hätte. In der Nacht gehören wir den Träumen. Bald ist es ein Strahl, bald eine Flamme, der sie durchzuckt, und je nach der Farbe ihres Widerscheins ist derselbe Traum ein himmlischer Schein oder eine höllische Erscheinung – Wirkung des Bengalischen Feuers, das in unserer Vorstellung entsteht.
Ich muß feststellen, daß mir der Turm der Ratten inmitten seiner Wasserlache nie anders als schrecklich vorgekommen ist.
Außerdem – soll ich es Ihnen gestehen? – als mich der Zufall, der mich ein wenig nach seinen Grillen ausführte, zum Rheinufer lenkte, war der erste Danke, der mir kam, daß ich nicht den Mainzer Dom, die Kathedrale von Köln oder die Pfalz sehen, als vielmehr den Mäuseturm besuchen würde.
Urteilen Sie daher, was in mir, dem armen leichtgläubigen, wenn nicht sogar gläubigen Poeten, und armen, leidenschaftlichen Altertumsvorscher vorging, der ich bin. Das Abendrot folgte langsam auf den Tag, die Hügel wurden braun, die Bäume wurden schwarz, einige Sterne funkelten, der Rhein rauschte im Schatten, niemand war auf der weißlichen und undeutlichen Straße zu sehen, die für mich umso kürzer wurde, je dunkler die Nacht und die sich einige Schritte vor mir sozusagen im Rauch verlor. Ich schritt langsam aus, das Auge in die Finsternis gerichtet; ich spürte, daß ich mich dem Mäuseturm näherte und daß in wenigen Minuten das berüchtigte Gemäuer, das bis zu diesem Tag nichts als eine Halluzination gewesen ist, Wirklichkeit würde.
Ein chinesisches Sprichwort sagt: Spannst Du zu sehr den Bogen, verfehlt der Pfeil. Das ist es, was mit dem Gedanken geschieht. Nach und nach schlich sich jener Dunst, den man Träumerei nennt, in meinen Geist ein. In den Bergen raschelte kaum vernehmbar das Blattwerk; das helle, schwache, reizvolle Ticken einer entfernten, unsichtbaren Schmiede drang bis zu mir vor. Ich vergaß, ohne es zu merken, den Mäuseturm, die Ratten und den Erzbischof; ich lauschte, wärend ich ging, dem Geräusch des Ambosses, der unter den Stimmen des Abends zu denjenigen zählt, welche in mir unaussprechliche Vorstellungen auslösen. Es hatte schon aufgehört, als ich es noch hörte und ich weiß nicht, ich es kam – nach einer Viertelstunde hatte ich fast ohne zu wollen folgende Verse gemacht:

L'Amour forgeait. Au bruit de son enclume,
Tous les oiseaux, troublés, rouvraient les yeux;
Car c'était l'heure où se répand la brume,
Ou sur les monts, comme un feu qui s'allume,
Brille Vénus, l'escarboucle des cieux.

La grive au nid, la caille en son champ d'orge,
L'interrogeaient, disant: «Que fait-il là?
Que forge-t-il si tard?» Un rouge-gorge
Leur répondit : « Moi, je sais ce qu'il forge:
C'est un regard qu'il a pris à Stella.»

Et les oiseaux, riant du jeune maître,
De s'écrier: «Amour, que ferez-vous
De ce regard, qu'aucun fiel ne pénètre?
U est trop pur pour vous servir, ô traître!
Pour vous servir, méchant, il est trop doux!

Mais Cupido, parmi les étincelles,
Leur dit: «Dormez, petits oiseaux des bois.
Couvez vos œufs et repliez vos ailes.
Les purs regards sont mes flèches mortelles;

Les plus doux yeux sont mes pires carquois.»

Als ich diese Zeilen fertig hatte, machte die Straße eine Biegung und ich blieb unvermittelt stehen. Folgendes befand sich vor mir: Zu meinen Füßen strömte der Rhein zwischen den Sträuchern mit heiserem, unbändigem Rauschen, als suchte er einen Ausweg vor einem Hindernis; rechts und links verloren sich die Gipfel der Berge, oder vielmehr der gewaltigen Massen Finsternis, in den Wolken eines düsteren Himmels, der hier und da von Sternen durchbohrt wurde; den Hintergrund bildete ein gewaltiger Schattenvorhang. Weit in der Mitte des Stroms über einem glatten, öligen und wie toten Wasser, ein großer schwarzer Turm, eine schreckliche Gestalt, aus dessen Dach irgendeine rötliche Umwölkung aufstieg, die sich auf seltsame Weise hin und herbewegte. Diese Helligkeit, die dem Widerschein eines glutroten Kellerfensters oder den Dämpfen einer Esse glich, warf einen bleiches, mattes Licht auf die Berge; ließ auf halber Höhe des rechten Ufers eine düstere Ruine vorspringen, die der Larve eines Gebäudes glich, und reichte mit seiner märchenhaften Spiegelung des Wassers bis zu mir.
Stellen Sie sich, wenn Sie können, diese unheilverkündene Landschaft vor, die halb von den Lichtern, halb von den Schatten gezeichnet wurde.
Im Übrigen kein menschliches Geräusch in dieser Einsamkeit, kein Vogelschrei, nur eisiges, bedrückendes Schweigen, das nur vom gereizten, eintönigen Klagen des Rheins gestört wurde.
Ich hatte den Mäuseturm vor meinen Augen.
Ich hatte ihn mir schrecklicher nicht gedacht. Alles war da: die Nacht, die Wolken, die Berge, das zitternde Röhricht, das von einem geheimen Schrecken erfüllte Geräusch des Flusses, als hörte man das Pfeifen der unter dem Wasser verborgenen Hydren, der traurige und schwache Atem des Windes, der Schatten, die Verlassenheit, die Abgeschiedenheit, bis zum Dampf der Esse auf dem Turm, bis zur Seele des Hatto!
Ich hielt also meinen Traum, und es blieb ein Traum!
Da packte mich ein Gedanke, der einfachste von der Welt, aber einer, der mich in diesem Augenblick schwindeln ließ: ich wollte auf der Stelle, zu dieser Stunde, ohne den folgenden Tag abzuwarten, ohne einen weiteren Tag zu warten, zu diesem Gemäuer hin. Die Erscheinung lag vor meinen Augen; es war tiefe Nacht, das bleiche Phantom des Erzbischofs ragte über dem Rhein. Dies war der Augenblick, den Turm der Ratten zu besuchen.
Aber wie anstellen? Wo zu solcher Stunden ein Boot finden, an solchem Ort? Den Rhein schwimmend überqueren, bedeutete wohl den Geschmack der Geister etwas zu weit zu treben. Außerdem, wäre ich ein großer Schwimmer und ein ebenso großer Narr, um es zu versuchen, befand sich genau an dieser Stelle einige Klafter vom Mäuseturm entfernt einer der fürchterlichsten Schlünde, das Bingerloch, das einst die Galioten geschluckt hat, wie ein Haifisch einen Hering verschlingt und für den infolgedessen ein Schwimmer nicht einmal ein Gründling wäre. Ich befand mich in einer großen Verlegenheit.
Indem ich einen Weg suchte, mich der Ruine zu nähern, erinnerte ich mich daran, daß das Klingen der Silberglocke und die Geister der Festung von Wellmich die Rebstöcke und die Rebpfähle nicht daran zu hindern vermochte, ihren Hügel zu nutzen und die Trümmer zu erklimmen, woraus ich schloß, daß der Fluß in der Nähe eines Strudels besonders fischreich sein müsse und ich möglicherweise am Ufer in der Nähe des Turms die Hütte eines Lachsfischers antreffen würde. Wenn die Winzer Falkenstein und seinen Mäusen trotzten, könnten die Fischer ebensogut Hatto und seinen Ratten die Stirn bieten.
Ich irrte mich nicht. Dennoch lief ich noch lange ohne etwas zu begegnen. Ich erreichte die Stelle am Ufer, die der Ruine am nächsten liegt, ging an ihr vorbei und befand mich fast bei der Mündung der Nahe und war schon dabei, die Hoffnung auf einen Schiffer aufzugeben, als ich, zu den Weidenbüschen am Ufer hinuntersteigend, eine jener großen Spinnen-Netze wahrnahm, von denen ich Ihnen berichtet habe. Einige Schritt vom Netz entfernt lag ein Nachen festgemacht, in dem ein Mann in eine Decke gehüllt schlief. Ich betrat den Nachen, weckte den Mann, ließ ihn einen der großen sächsischen Taler sehen, deren Wert zwei Gulden und zweiundvierzig Kreuzer, das heißt, sechs Francs beträgt. Er verstand mich und einige Minuten später trieben wir ohne ein Wort zu reden, als wären wir selbst zwei Gespenster gewesen, dem Mäuseturm entgegen.
Als ich mich in der Mitte des Stroms befand, schien mir, als ob der Turm, dem wir uns jetzt näherten, anstatt zu wachsen, kleiner wurde. Die Breite des Stroms machte es, daß er kleiner wurde. Das dauert aber nicht lange. Da ich das Boot an einer Stelle genommen hatte, die oberhalb des Mäuseturms liegt, fuhren wir den Rhein hinunter und kamen rasch voran.
Ich hatte meinen Augen fest auf den Turm geheftet, dessen Spitze noch stets das unbestimmte Leuchten erschien, welches ich nun deutlich und mit jedem Ruderschlag auf eine Weise zunehmen sah, die mir irgendwie unheimlich erschien. Mit einem Mal fühlte ich, wie der Nachen unter mir heftig einsank, als wiche das Wasser unter ihm. Durch den Stoß fiel mir mein Stock vor die Füße. Ich beobachtete meinen Begleiter, der mich seinerseits mit einem Lächeln ansah, das durch die schaurige Beleuchtung des übernatürlichen Widerscheins des Mäuseturms etwas Erschreckendes besaß, und der mir sagte: Bingerloch! Wir befinden uns über dem Strudel.
Das Boot wendete, der Mann erhob sich, ergriff einen Bootshaken mit der einen, eine Leine mit der anderen Hand, tauchte den Haken in die Welle, wobei er sich mit seinem ganzen Gewicht daraufstemmte und über die Planke des Nachens entlangging. Während er ging, schabte der Nachen mit einem kratzenden Geknirsch über die Zacken der Felsen, die unter dem Wasser verborgen lagen.
Dieses schwierige Manöver vollzog sich so leicht, mit einer fabelhaften Geschicklichkeit und einer bewunderungswürdigen Kaltblütigkeit, ohne daß der Mann einen Satz ein Wort verlor.
Da hob er seinen Haken aus dem Wasser, warf ein Ende der Leine hinaus. Das Boot hielt abrupt. Wir stiegen aus.
Ich hob die Augen. Einen halben Pistolenschuß entfernt erhob sich auf einer kleinen Insel, die man vom Flußufer nicht sehen konnte, der Mäuseturm, düster, gewaltig, riesig, an seiner Spitze gezackt, an seinem Fuß gründlich weithin und gründlich zerfressen, als ob die schrecklichen Ratten der Legende den Stein angenagt hätte.
Der Lichtschein war kein Lichtschein mehr – es war ein flackerndes, heftiges Aufflammen, das seine Strahlen bis auf die Berge warf und wie aus einer riesenhaften Laterne aus den Spalten und formlosen Öffnungen des Turms drang.
Mir schien als hörte ich in diesem unglückseligen Gebäude eine Art sonderbaren, schrillen, anhaltenden Laut, wie ein Quietschen.
Ich setzte meinen Fuß auf die Erde und gab dem Schiffer ein Zeichen, auf mich zu warten und näherte mich dem Gemäuer.
Endlich war ich da! – Das war er, der Turm von Hatto, das war er, der Turm der Ratten, der Mäuseturm! Er stand vor meinen Augen, einige Schritte von mir entfernt und ich begab mich hinein! – In einen Alptraum eintreten, einen Alptraum betreten, die Steine eines Alptraums berühren, das Gras eines Alptraums ausrupfen, seine Füße im Wasser eines Alptraums naßmachen, das ist ganz zweifellos ein außerordentliches Gefühl.
Die Fassade, auf die ich zutrat, wies eine kleine Luke und vier ungleiche, erleuchtete Fenster auf, zwei im ersten Stock, eines im zweiten und dritten. In Mannshöhe befand sich unter den beiden unteren Fenstern weit geöffnet eine niedrige, breite Tür, die über eine starke Holztreppe mit drei Stufen mit der ebenen Erde verbunden war. Diese Tür, die noch mehr Licht verbreitete als die Fenster, war mit einem einem groben Flügel aus Eichenholz versehen, der durch den Wind des Stroms leicht in seinen Angeln quietschte. Während ich wegen der Felsspitzen im Gestrüpp langsam meine Schritte auf diese Tür lenkte, huschte in meiner Nähe etwas Rundes, Schwarzes vorbei, fast zwischen meinen Beinen hindurch, und mir war, als sähe ich eine fette Ratte ins Schilf entfliehen. Noch stets vernahm ich das Quietschen. Ohne mich davon aufhalten zu lassen, stand ich mit einigen Sätzen vor der Tür.
Diese Tür, der der Architekt des bösen Bischofs nur einige Fuß über dem Erdboden eingerichtet hatte – vermutlich, um den Ratten mit der Treppe eine Hindernis zu bieten –, war einst der Eingang zu einem unteren Gemach des Turms, in dem es nunmehr weder untere noch obere Gemächer gibt. Alle Stockwerke sind ineinandergestürzt, alle Decken nacheinander zerfallen, so daß aus dem Mäuseturm ein von vier hohen Mauern umschlossener Saal geworden ist, dessen Boden aus Schutt besteht und dessen Decke die Wolken am Himmel bilden.
Unterdessen hatte ich einen Blick ins Innere dieses Saals gewagt, aus dem ein so seltsamen Quietschen und ein so außergewöhnliches Licht drang. Und das ist, was ich sah:
In einem Winkel gegenüber der Tür befanden sich zwei Männer, die mir den Rücken zugewandt hatten. Der eine hockend, der andere gekrümmt, beugten sie sich über einen eisernen Schraubstock, den man mit ein wenig Phantasie sehr gut für ein Folterinstrument hätte halten können. Sie waren barfüßig, mit bloßen Armen, in Lumpen gekleidet, mit einer über die Knie reichenden Lederschürze und einem Kittel mit Kapuze über dem Rücken. Der eine war alt, wie ich an seinem grauen Haar sah, der andere war jung, sein blondes Haar erschien rot durch den purpurnen Widerschein eines großen Ofens, der in der gegenüberliegenden Ecke des Gemäuers brannte. Der Alte trug seine Kapuze nach Art der Guelfen schief nach rechts, der Junge trug sie nach links geneigt, wie die Ghibellinen. Allerdings waren sie weder Ghibellin noch Guelfe, es waren auch keine zwei Scharfrichter, weder zwei Teufel, noch zwei Gespenster – es waren zwei Schmiede. Dieser Ofen, in dem ein langer Eisenstab rot erglühte, war ihre Esse. Der Lichtschein, der in dieser schwermütigen Landschaft auf so merkwürdige Weise die Seele Hattos vorstellte, die sich in der Hölle in eine lebendige Flamme verwandelt hatte, waren das Feuer und der Rauch dieser Esse. Das Quietschen war das Geräusch einer Feile. In der Nähe der Tür lehnten neben einem mit Wasser gefüllten Bottich an einem Amboß zwei Hämmer mit langen Stielen. Dieser Amboß war es, den ich vor etwa einer Stunde gehört hatte und der mit zu den Versen veranlaßt hatte, die ich Ihnen zu lesen gegeben habe.
Heute ist der Mäuseturm also eine Schmiede. Warum soll er nicht ehedem eine Zollstelle gewesen sein? Sie sehen, mein Freund, daß die Version der Maut nicht ganz falsch sein mag…
Es gibt nichts Hinfälligeres als das Innere dieses Turms. Die Mauern, an denen prachtvolle bischöfliche Tapisserien gehangen haben, aus denen der Legende nach die Ratten überall den Namen von Hatto herausgenagt hatten, diese Mauern sind gegenwärtig kahl, zerfurcht, vom Regen ausgewaschen, außen grün vom Nebel des Flusses, innen schwarz vom Rauch der Schmiede.
Die beiden Schmiede waren übrigens die besten Leute der Welt. Ich stieg die Treppe hinauf und betrat das Gebäude. Sie zeigten mir an der Seite, wo ihre Esse stand, eine schmale ausgebrochene Tür zu einem fensterlosen Türmchen, das heute unzugänglich ist, wohin sich, wie sie sagten, der Erzbischof anfangs geflüchtet hatte. Dann liehen sie mir eine Laterne, mit der ich die ganze kleine Insel in Augenschein nehmen konnte. Sie besteht aus einer langen, schmalen Landzunge, auf der überall inmitten eines Gürtels aus Binsen und Röhricht Yeuphorba officinalis wächst. Beim Gang über die Insel stößt der Fuß jeden Augenblick gegen Erhebungen oder sinkt ins Erdreich ein. Die Maulwürfe haben die Ratten verdrängt.
Der Rhein hat die östliche Spitze der kleinen Insel, die sich wie ein Bug gegen den Strom stemmt, bloßgelegt und kahl hinterlassen. Es gibt dort weder Erde noch Bewuchs, sondern einen Fels aus rosa Marmor, der mir im Schein meiner Laterne wie von Blut geadert erschien.
Auf diesem Marmor wurde der Turm errichtet.
Der Turm der Ratten ist viereckig. Das Türmchen, das mir die Schmiede im Inneren gezeigt haben, stellt zur Seite von Bingen hin eine malerische Ausbauchung dar. Der fünfeckige Querschnitt dieses langen, schlanken Türmchens und die falschen Mauerkränze auf denen es ruht, weisen auf einen Bau des elften Jahrhunderts hin. Unter diesem Türmchen befindet sich eine Stelle, wo es so aussieht, als hätten die Ratten das Untere des Turms stark angefressen. Seine Öffnungen haben derart jegliche Form verloren, daß es unmöglich ist auf ein Datum zu schließen. Die Außenverkleidung, die hier und dort abgescheuert ist, überzieht die Seitenwände wie ein scheußlicher Aussatz. Die unförmigen Steine, die einmal die Zinnen oder die Mauerkränze gebildet haben, verleihen der Krone des Gebäudes die Gestalt von Walzähnen oder von eingemauerten Mastodontenknochen.
Über dem Türmchen flattert und zerfetzt sich an einem langen Mast ein trister schwarz-weißer Lappen im Wind. Anfänglich fand ich eine unbestimmte Eintracht zwischen dieser jämmerlichen Ruine und dem Trauerfetzen. Aber es handelt sich lediglich um die preußische Fahne.
Mir fiel ein, daß ja die Gebiete des Großherzogs von Hessen in Bingen enden. Dort beginnt das preußische Rheinland.
Verstehen Sie bitte nicht falsch, was ich Ihnen da über die preußische Fahne sagte. Ich sprach lediglich über die Wirkung, nichts anderes. Alle Fahnen sind ruhmreich. Wer die Fahne Napoleons liebt, wird niemals die Fahne Friedrichs beleidigen.
Nachdem ich alles gesehen und und einen Stengel Wolfsmilch gepflückt hatte, verließ ich den Mäuseturm. Mein Schiffer war eingeschlafen. Sobald er seinen Riemen ergriffen hatte und der Nachen sich von der Insel entfernte, waren die beiden Schmiede wieder zum Amboß zurückgekehrt und ich hörte, den Stab aus rotglühendem Eisen zischen, als sie ihn in den Wasserbottich tauchten.
Was werde ich Ihnen jetzt berichten? Daß ich binnen einer halben Stunde in Bingen war; daß ich einen Bärenhunger hatte, und daß ich nach meinem Abendessen, obschon ich ich müde war; obschon es sehr spät war; obschon die braven Bürger schliefen, gegen Bezahlung eines Talers, nach Klopp, zur alten Burgruine hinaufgestiegen bin, die über Bingen wacht.
Dort bot sich mir ein Anblick, der würdig war, diesen Tag zu beschließen, an dem ich so viele Dinge gesehen und so viele Gedanken gehegt hatte.
Es war jetzt tiefste Nacht, in der Alles fest schlief. Unter mir lag eine Masse schwarzer Häuser wie ein See der Finsternisse. Im ganzen Ort gab es nicht mehr als sieben erleuchtete Fenster. Durch einen sonderbaren Zufall bildeten diese sieben Fenster, die sieben roten Sternen glichen, mit vollkommener Genauigkeit den Großen Bären nach, der zu dieser Zeit klar und weiß am Himmel stand. Wie in einem Spiegel schien sich zu meinen Füßen in einem Spiegel aus Tinte das majestätische Sternbild zu wiederholen, das Millionen Meilen entfernt über unseren Köpfen leuchtet.

Victor Hugo, Der Rhein - Briefe an einen Freund, Köln 2012