Rotterdam
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Nieuwe Waterweg
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Maasmündung 1769 (Izaak Tirion)

Während die Niederlande ihren Wohlstand ihrer strategischen Stellung im Welthandel verdankten, blieb ihre Position hinsichtlich der Schiffahrt über Jahrhunderte durchaus prekär. Obgleich sich die Umstände bis ins 15. Jahrhundert nicht grundsätzlich geändert haben dürften, unter denen sich die Siedlungen eingerichtet hatten, die von Wasser umgeben waren, hat sich die Sankt-Elisabeths-Flut, die an einem Novembertag im Jahr 1421 Deiche, Häuser, Höfe, Vieh und Menschen gleichermaßen hinwegspülte und in der ganze Landstriche versanken, tief ins Gedächtnis der Holländer eingeprägt. Höchstwahrscheinlich sind es nicht so sehr die veränderten Umstände, als vielmehr die Tatsache, daß seit dem 15. Jhdt. der Verlauf der Küsten und die Lage der Grenzen mit Hilfe von Karten in zunehmender Zahl und Genauigkeit dokumentiert und überliefert sind, daß wir uns ein Bild vom wechselnden Verlauf der Flüsse auf ihrem Weg zum Meer machen. Was sie uns zeigen ist ein Labyrinth aus Wasserläufen um unzählige Inseln, die entstehen und verschwinden, je nachdem, ob im Kampf der Gezeiten mit den Festlandströmen das Meer oder der Fluß die Oberhand gewinnt. Bis zum 19. Jahrhundert waren die Navigatoren mehr oder weniger den Naturgewalten ausgeliefert. Ähnliches gilt für die Kaufleute der Handelsplätze, die von der Schiffbarkeit der Gewässer abhingen und von der Erreichbarkeit ihrer Häfen, die von einem Jahrzehnt zum andern auf dem Spiel stehen konnte. Auf der Karte erscheinen Gewässer teils weit wie ein See. Indes erweisen sich die Gewässer der Mündung häufig als zu seicht für schwere seegängige Schiffe und wo nicht, sind diese schwer zu navigieren, da bei gleich welchem Wind auf den gewundenen Fahrwassern der Wind ständig von einer anderen Seite zu kommen pflegt. Diese Umstände verschärften sich in dem Maß, wie der Verkehr in niederländischen Häfen zunahm und die Schiffe stets größer wurden.

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Karte der Holländischen Inseln mit den Alternativrouten nach Rotterdam

Auch und insbesondere Rotterdam bekam das im Lauf des 18. Jahrhunderts zu spüren. Am Ende des Jahrhunderts waren weder das Maassluis Diep noch das Brielse Gat - die beiden Arme der Maas, die südlich und nördlich der Rozenburg-Insel verliefen - für die großen Schiffe jener Zeit mehr schiffbar. So waren sie zu einer Ausweichroute gezwungen. Diese verlief weiter südlich durch Haringvliet, Hollands Diep und Dordtse Kil zur Oude Maas, Richtung Vlaardingen (da die Noord bei Dordrecht ebenfalls verlandet war), um sich dann ostwärts nach Rotterdam zu wenden (siehe grüne Route). Es konnte auch sein, daß man die Güter bei 's-Gravendeel auf kleine Fahrzeuge umschlug, die aufgrund ihres Tiefgangs den Weg über die Noord zu nehmen imstande waren.

Auf Verlangen der Marine wurde schließlich in den 1830er Jahren eine Abkürzung gebaut. Sie bestand aus einem Kanal, der im Süden von Hellevoetsluis in gerader Linie die Insel Voorne durchschnitt, um bei Zwarte Waal auf die Oude Maas zu treffen. Der Kanal ersparte den Schiffen die Reise nach Rotterdam um Beyerland und an Dordrecht vorbei.

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Maasmündung mit Skizze des Nieuwe Waterweg (Gemeente Archief Rotterdam

Bald sollten sich aber die Kanalschleusen an beiden Enden als Verkehrshindernis erweisen. Darüberhinaus war der Kanal zu schmal für Begegnungen großer Schiffe, die zu diesem Zweck an Ausweichstellen warten mußten. Zu allem Unglück versandete auch der Eingang zum Goeree Gat schneller als erwartet. Also sann man erneut nach Abhilfe. Während Rotterdam mit einer punktuellen Lösung für die Zufahrt zum Hafen zufrieden gewesen wäre, erwartete die Regierung im Haag einen umfassenden Plan, der dem Verkehr in den Provinzen Süd- und Nordholland Rechnung trug. Der Wasserbauingenieur Pieter Caland wurde damit beauftragt, sich der Zufahrt der Nieuwe Maas zum Meer zu widmen. Im Januar 1858 stellte er seinen Plan der parlamentarischen Kommission vor, der einen künstlichen Zugang beinhaltete. Caland schlug vor, die Maas über die gesamte Strecke von Krimpen bis zur See durch den Bau eines Kanals zu entlasten, der die Sandbank durchschneiden sollte, die bei Hoek van Holland in der Mündung lag. Die Mündung selbst sollte trichterförmig angelegt werden, um sie mit Hilfe der natürlichen Strömungen der Gezeiten freizuhalten, wodurch künftige Baggerarbeiten vermieden würden. Die Regierung war einerseits überzeugt, forderte andererseits aber im Sinn des umfassenderen Plans die Anlage einer Eisenbahnstrecke nach Hoek van Holland parallel zur Maas. Sie forderte Caland außerdem auf, einen weiteren Plan für einen Kanal Amsterdam-Den Helder, den künftigen Noordhollandsch Kanaal, vorzulegen. Dieser sollte auf ähnliche Weise die schwierige Zufahrt zum Hafen Amsterdam über die Zuiderzee und das IJ abkürzen. Politisch sollte er allen Argumenten einer Bevorzugung des südholländischen Hafens Rotterdam vor dem nordholländischen Amsterdam zuvorkommen. Beide Projekte würden aus den Einkünften des Ostindienhandels finanziert, was den Dichter Multatuli zu einem Schreiben an König Willem III veranlaßte:

... ein räuberischer Staat an der Nordsee ...
... der Eisenbahnen baut, mit Geld, gestohlen von Opfern,
die mit Opium, Evangelien und Jenever betäubt wurden

Ihr seid es, an den ich vertrauensvoll die Frage richte, ob
es Euer Wille sei, daß Eure mehr als 30 Millionen Untertanen
dort unten in Eurem Namen auf solche Weise
mißbraucht und ausgesaugt werden?

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Nieuwe Waterweg - Erster Spatenstich 31.10.1866

Der Erste Spatenstich für den Nieuwe Waterweg fand am 31. Oktober 1866 statt. Schon sechs Jahre zuvor hatten Arbeiten an der Nieuwe Merwede begonnen, um die Boven-Merwede - ein Arm des Waal - zum Hollandsch Diep hin zu entlasten. Zwei Jahre, nachdem diese Arbeiten beendet worden waren, wurde auch der Nieuwe Waterweg für die Schiffahrt freigegeben. Am 9. März 1872 fuhr der Dampfer Richard Young als erstes Schiff durch den Kanal. Die Berechnungen Calands erwiesen sich indessen bald als unzureichend. Schon bald stellte sich das alte Problem ein, die Einfahrt drohte zu versanden. Auch die Maßnahme, den Trichter durch zwei Molen, die ins Meer hinaus reichten, zu verengen, brachte keine Abhilfe. Inzwischen weigerte sich die Staatsregierung weitere Mittel zum Ausbaggern zur Verfügung zu stellen. Zehn Jahre nach der Eröffnung verlagerte die Niederländisch-Amerikanische Dampfschiffahrtsgesellschaft ihren Sitz nach Amsterdam und zwang auf diese Weise Rotterdam zum Handeln: 2 Millionen Gulden wurden aufgebracht, um die Rinne auszubaggern. Tatsächlich stellte sich bald der langersehnte Erfolg ein. Caland behielt Recht und die Zufahrt zum Hafen war dauerhaft gesichert.

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Nieuwe Waterweg - seewärts (Photo: Port of Rotterdam/S. Swart)
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Nieuwe Waterweg - landwärts (Photo: Rijkswaterstaat/B.v.Eyck)

Caland hatte den Nieuwe Waterweg so dimensioniert, daß er für Schiffe bis 140 Meter Länge, bis zu einer Breite von 18 Metern, bei einem maximalen Tiefgang von 6,50 Meter befahrbar war. Im Laufe der Zeit erwiesen sich diese Abmessungen als zu klein. Ab 1908 erhöhte sich der maximale Tiefgang auf 8, ab 1917 auf 10 und ab 1957 auf 11,70 Meter. Um in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts größere Schiffe aufnehmen zu können, verlagerte man den Hafenbetrieb für Massengüter weiter in die unmittelbare Nähe der Mündung. Der neue Europoort und die Maasvlakte bekamen eine eigene Zufahrt für Schiffe bis 25m Tiefgang. Der neue Kanal, der Parallel zum Nieuwe Waterweg und zur Nieuwe Maas verläuft, wurde in Erinnerung und zu Ehren seines Ingenieurs Calandkanaal genannt.

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Pieter-Caland-Denkmal - Rotterdam, Veerkade
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