Der Alpenrhein
     
Horst Johannes Tümmers
Die Quellen des Vorderrheins
   
  Der Tomasee im östlichen Gotthardmassiv gilt als eine der Quellen des Vorderrheins. Er ist in den Sommermonaten vom Oberalppaß aus auf einem gut markierten Pfad und nach einem zunächst sanften, auf dem letzten Wegstück steilen Anstieg zu erreichen.

Auf den Richtungsweiser lese ich «Naturschutzgebiet Tomasee. Lai da Tuma. 1343m. Oberalppaß 2 3/4 Stunden.» Der Tomasee hat nichts Großartiges; eigentlich ist er nur ein mit Schmelzwasser gefülltes Becken, etwa 250 Meter lang, 100 Meter breit, 10 Meter tief. Gletscher der Eiszeiten haben diese Felsmulde zurückgelassen. Ungezählte Abflüsse von den Schneegipfeln sammeln sich darin. Wo das Wasser talwärts überfließt, kerbt es sich in jahrtausendelanger Arbeit ein. Zugleich räumt das abfließende Wasser den Erosionsschutt aus.

Der Tomasee ist also ein erstes Sammelbecken für Quellgewässer aus höheren Lagen; hinter der «Quelle des Vorderrheins» gibt es weitere Quellen. Wo ist ein Anfang? Sollte ich es genau nehmen und weiter an einem der Bäche hinaufsteigen, um an eine der ungezählte Quellen zu gelangen? Aber die Auswahl wäre zufällig, das Hervorquellen überdies nur ein beiläufiges Ereignis, denn im Sommer würde die «Quelle» trocken liegen, im Winter von Eis und Schnee überdeckt sein und im nächsten Frühjahr vielleicht an anderer Stelle fließen und sich ein anderes Bett wählen. Also wende ich mich dem Abfluß des Tomasees zu.

Durch die Abflußkerbe hindurch folge ich dem Wasser über einen Geröllhang. 200 Meter hinunter zur Hochfläche Plidutschu, einer nassen, sumpfigen Wiese, auch sie eine Hinterlassenschaft des Würmeises. Der Bach durchquert die Hochfläche, wendet sich nach Norden und stürzt über eine Felskante ins Vorderrheintal hinunter. Der «Rein da Tuma» ist ein prächtiger Wasserfall geworden.

 
  H.J.Tümmers, Der Rhein. Ein europäischer Fluß und seine Geschichte, München 1994, S.15  
© 2009 779~shipmate